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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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zur Mutter gehen und sie um Hilfe bitten sollte.
    Lautes Gejohle lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Szene vor ihr. Die Männer hatten die Säcke an dem Haken befestigt, der vom Turm heruntergelassen worden war. Zwei Landsknechte ließen ihre Knüppel darauf niedersausen, doch die Gefangenen zuckten nur noch schwach. Am Boden bildete sich eine dunkle Pfütze.
    »Ah«, machte der Mann in der Schaube. »Der Henker gibt das Zeichen!«
    »Gute Reise, der Herr!«, rief jemand. Dann ruckte die Seilwinde, die im Fachturm über dem Geschehen bedient wurde, und die Säcke mit ihrer lebenden Fracht wurden hochgezogen. Oben wartete inzwischen der Scharfrichter.
    »Nur die besten Grüße an den Herrn Sultan, wenn er Euch in die Hölle folgt!«, gellte es aus einer Ecke. Es dauerte gar nicht lange, dann kam der Sack oben an einer Ladeluke an. Die Zuschauer verteilten sich auf die Treppen und die Mauern, um besser sehen zu können.
    Die Landsknechte im Turm schlugen auf den Sack, bevor sie ihn ins Innere zogen. Das Wimmern und Flehen der Gefangenen bedachten sie mit Spott. Vermutlich hängten sie ihn auf Geheiß des Henkers an den Ladekran des Turms über dem Donauarm auf. Ein Johlen aus dem Turm bestätigte, dass man oben die Leine schießen ließ. Ein mehrstimmiger Schrei folgte, dann ein Platschen. Und Stille.
    Madelin betrachtete befremdet die tanzende Menge auf der Mauer, die die Schreie von der anderen Seite, als der lebende Inhalt des Sackes kurz an die Wasseroberfläche gespült wurde, mit Jubel beantworteten. Sie wandte sich ab und ging. Hätte sie die Männer retten können? Nein, sagte sie sich, sie hätte
nichts tun können. Das Einzige, was sie beeinflussen konnte, war ihr eigenes Schicksal und das der Freunde. Und dafür gab es im Augenblick nur einen Weg.
    Wenn Madelin wollte, dass sie und ihre Gefährten überlebten, dann würde sie doch mit der Mutter sprechen müssen. Sie brauchten Essen, warme Kleidung - und immer noch Geld für einen Physicus, um Franziskus untersuchen zu lassen.
    Müde schritt die Fahrende die Stufen des Ruprechtssteigs hinauf, bekreuzigte sich und sandte ein Stoßgebet zur heiligen Maria.
     
    Es war kurz vor Mittag, als Madelin im Regen vor dem Haus an einer Ecke des Hohen Marktes stand. Landsknechte mit langstieligen Piken zogen eilig über den Platz, während andere hier offenbar für neue Befehle bereitstanden. Die junge Frau ignorierte die Rufe und Pfiffe der Männer.
    Sie hob schon die Hand zum Klopfen, da hielt sie unwillkürlich inne. Die Erinnerung an den Tag des Streits vor sechs Jahren wollte sich nicht vertreiben lassen. Doch der Hunger wühlte in ihren Eingeweiden, und die Ungewissheit der nächsten Tage und Wochen bereitete ihr Sorgen. Also fasste sie sich ein Herz und klopfte.
    Während sie das tat, schossen Madelin erstaunlich viele Gedanken durch den Kopf. Sie fragte sich, was die Mutter für ein Gesicht machen würde, wenn sie die lang vermisste Tochter vor der Tür sah. Ob sie sie überhaupt vermisst hatte? Ob sie sie umarmen würde? Ob sie vielleicht gar weinen würde - aus Freude darüber, dass Madelin lebte?
    Auf das vierte oder fünfte Klopfen hin öffnete sich die Tür endlich einen Spaltbreit. Eine hagere Dienerin lugte heraus - sie musste neu sein, denn Madelin kannte sie nicht. »Wir geben nichts«, verkündete sie nach einem Blick auf Madelins
Gewänder. »Nach der Messe am Dom gibt es etwas. Wie für alle Bettler.« Dann schloss sie die Tür wieder.
    Völlig perplex klopfte Madelin noch einmal, zweimal, dreimal. »Ich bin keine Bettlerin«, rief sie schließlich. »Ich bin … die Tochter der Hausherrin.« Sie lauschte einige Herzschläge lang darauf, was hinter der Tür vorging. Madelin kamen sie vor wie Stunden. Sie meinte, Schritte zu hören, sowie ein Tuscheln. Schließlich öffnete die hagere Magd die Tür wieder.
    »Ah.« Mehr sagte die Bedienstete nicht und starrte sie an. Halb neugierig - halb abfällig. Die Wahrsagerin kam sich vor wie ein dreckiges Stück Fleisch, das auf seine Essbarkeit hin überprüft wurde.
    Madelin nahm für den nächsten Satz ihren ganzen Mut zusammen. »Ich … ich möchte die Frau Mutter sprechen.«
    »Sie ist nicht da«, sagte die Magd abweisend. »Gott befohlen.« Wieder wollte sie die Tür schließen, doch Madelin legte eine Hand dagegen und schob sie auf. »Es ist wirklich dringend!«, bat sie, doch ihr kam ein bitterer Gedanke. Plagte sie sich hier mit einer Magd herum, während die Mutter vielleicht ein Stockwerk

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