Die Schicksalsleserin
feinen Arbeitswerkzeugen. »Die da vorne zuerst, Daniel!«, rief Woffenberger dem Jungen jetzt zu. Der nahm sich die Truhe und verschwand damit wieder hinter dem Vorhang.
»Sicher werden wir belagert, junger Mann«, sagte er gehetzt zu Lucas. »Aber das sind Mörder da draußen! Irgendwie muss sich noch ein Weg finden lassen, bevor die Mauern fallen! Wenn sie erst einmal drinnen sind …« Woffenberger sprach nicht weiter.
»Warum seid Ihr dann geblieben, Meister?« Lucas hob den heruntergefallenen Beutel vorsichtig vom Boden auf, so dass nicht noch mehr Farbpulver verlorenging, band ihn zu und legte ihn in die Kiste.
»Geschäfte«, erwiderte Woffenberger kurz angebunden. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, nahm die Kiste auf und schleppte sie in Richtung Vorhang. »Tut mir leid, Bursche, aber ich habe noch viel zu tun«, rief er noch und polterte damit eine Kellertreppe hinunter.
Lucas fand sich allein in der Werkstatt. Enttäuscht wollte er sich schon abwenden und gehen, da fiel sein Blick auf das Regal, das Woffenberger gerade so hastig geleert hatte. Er traute seinen Augen kaum, denn dort lag nur unvollständig in ein Wachstuch eingeschlagen ein Trionfi-Spiel mit prachtvollen Farben.
Der Student hatte damals nur einen kurzen Blick auf die verbrannten Reste werfen können, die Madelin im Haus ihrer Schwester aufgesammelt hatte. Trotzdem fand er, dass dieses Spiel dem ihren zum Verwechseln ähnlich sah. Die oberste Karte zeigte einen gut gebauten Mann mit blondem Haar, der in einer Rüstung, ähnlich der eines römischen Soldaten, einen Knüppel schwang. Opfer seines Kraftaktes war ein auf dem Boden kauernder Löwe.
Lucas’ Blick wanderte zu dem Vorhang, hinter dem Woffenberger verschwunden war. Er ging in der Werkstatt auf und ab, während er wartete. Ob er es ihm verkaufen würde? Doch der Maler kam nicht zurück, und schließlich machte der Schlag des Primglöckleins den Studenten unruhig. Ein letztes Mal schielte er zu dem Vorhang. Der Mann war so mit dem Packen und Verstecken seiner Kleinodien beschäftigt, dass er bestimmt keine Zeit dafür erübrigen wollte, jetzt noch ein Kartenspiel zu veräußern. Und wenn der Maler dieses Spiel hier liegen gelassen hatte, dann konnte es bestimmt nicht viel wert sein, oder? Für Madelin hingegen würde dieses Spiel möglicherweise ihr Leben bedeuten.
Lucas zögerte nicht mehr lange. Er kramte in seiner Börse
nach sämtlichen Münzen, die er finden konnte. Viel war es nicht, doch was er besaß, legte er in das Regal. Vielleicht würde Woffenberger sogar froh darüber sein, noch ein bisschen Geld verdienen zu können, denn immerhin plante er seine Flucht. Und was verkauft war, musste er nicht mehr im Keller verstecken.
Der Student schlug das Spiel sorgfältig in die Wachshaut ein und steckte es unter seinen nassen Umhang. Dann verließ er eilig die Werkstatt. Der Regen hatte inzwischen nachgelassen, doch ein Blick auf den Himmel versicherte dem Studenten, dass das nicht lange so bleiben würde.
Schnell bekam Lucas ein schlechtes Gewissen. Genau genommen hatte er gerade eine große Dummheit begangen - er hatte jemanden bestohlen, nachdem er sich mit Namen vorgestellt hatte. Und er hatte auch noch verkündet, dass er für Pernfuß arbeitete und in der Schranne anzutreffen wäre. Wenn der Stadtrichter davon Wind bekäme, würde er Lucas den osmanischen Löwen zum Fraß vorwerfen.
Doch im Augenblick zählte nichts mehr als die Freude, die er in Madelins Gesicht zu sehen hoffte, wenn er ihr das Spiel schenkte. Ihm schlug das Herz in der Brust schneller, als er sich auf den Weg zur Ruprechtskirche machte. Allmählich beruhigten sich seine Zweifel. Er hatte nichts Falsches getan.
Woffenbergers Leben würde schließlich nicht an einem Trionfi-Spiel hängen.
Madelin hatte sich nach dem Regenschauer auf den Brunnenrand am Kienmarkt gesetzt. Jetzt kam die Sonne hervor und ließ die Pfützen um sie herum glitzern. Die junge Frau hatte ihren Stolz hinuntergeschluckt und den Gulden der Mutter teilweise dazu genutzt, warme Decken zu kaufen, denn obwohl erst der Oktober nahte, roch die Morgenluft nach baldigem
Frost. Den Rest hatte sie verwendet, um Brot und Gemüse für sich und die Freunde sowie Futter für die Pferde zu kaufen. Die Preise für Nahrungsmittel waren in der belagerten Stadt in ungeahnte Höhen geschnellt.
Madelin putzte am Brunnenrand die erworbenen Karotten und Rüben. Sie schnitt das Gemüse mit dem Messer - es war immer noch das neue, das
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