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Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
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Kälte in die feuchten Mauern der Kodrei Goldberg kriechen spüren. Die Einsamkeit des Hauses hatte mehr denn je auf sein Gemüt gedrückt, und so war er froh, dass Pernfuß ihn mit einem Auftrag gen Südmauer geschickt hatte. Er sollte sich ein Bild vom feindlichen Heer machen. Jetzt gähnte der Student und blickte von der Stadtmauer beim Kärntner Tor hinunter auf die ehemaligen Vorstädte.
    Mit seinen früheren Gegnern in der Stadtwache kam Lucas inzwischen ganz gut klar. Die meisten anderen verbliebenen Männer in Wien waren Fremde für ihn - Landsknechte und Soldaten, die nicht der Kampf um Haus und Hof antrieb, sondern die Pflicht oder der schnöde Mammon. Den Gerichtsknechten aber ging es um ihre Heimat, und das ließ sie selbst über ihre mehr als holprige Vergangenheit mit dem Studenten hinwegsehen.
    Der Einzige, der nach wie vor gegen Lucas hetzte, war Wilhelm
Hofer, und ausgerechnet heute sollte der Student wieder mit ihm auf Patrouille gehen, weil der Gang allein durch die Stadt zu gefährlich wurde. Siebzehntausend Bewaffnete hausten in der Stadt, und immer wieder kam es zu gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen Daheimgebliebenen, die ihre Habe schützten, und Flüchtlingen, die diese rauben wollten. Mit jedem Tag wuchs die Zahl der Einbrüche in Bürgerhäuser und Prügeleien zwischen den Beteiligten.
    Pernfuß schien Lucas’ Arbeit bei den Stadtknechten inzwischen zu respektieren, denn er hatte darauf bestanden, dass Hofer und er ihre Route wieder zusammen aufnähmen. Der Student hatte schließlich schweren Herzens akzeptiert, und Hofer hatte eingewilligt, um ihm auf die Finger zu schauen, wie er nicht müde wurde zu betonen. Inzwischen war dem Studenten ein neuerlicher Zusammenstoß beinahe recht, denn vielleicht klärte sich die Angelegenheit dann ein für alle Mal.
    Der wahre Lichtblick des Tages würde erst am Abend folgen. Lucas hatte einen Besuch bei Madelin an der Ruprechtskirche geplant. Mit einem zärtlichen Glücksgefühl dachte er an ihren Gesichtsausdruck, als sie die neuen Spielkarten zum ersten Mal gesehen hatte - eine Mischung aus überbordender Freude, Unglauben und Furcht, dass sie aus einem Traum erwachen könnte und die Karten dann wieder verloren wären.
    Eine gewaltige Kanone krachte im Süden und ließ den Studenten zusammenzucken. Die Osmanen hatten ihre Geschütze aufgestellt und begannen mit dem Beschuss. Bloß die alte Mauer schützte Wien jetzt noch davor, von einem Sturm hinweggefegt zu werden. Umso besorgniserregender erschien es Lucas, dass man aus der Mauer links Steine entfernt hatte, um dort Geschütze aufzustellen und hindurchschießen zu können. Wer tat denn so etwas? Das musste doch jemandem aufgefallen sein! Er schielte zwischen den alten Zinnen hindurch. Der
kalte Wind blies ihm um die Nase und der Rand des sechs Fuß dick gemauerten Steins krümelte zwischen seinen Fingern.
    Der Qualm der Kanonenladung hing in der klaren Herbstluft über dem Laslaturm beim Heiligengeistspital, gleich bei Sankt Anton auf der Wieden. Es war erstaunlich - er selbst hatte das Öl in Brand gesetzt, um den Turm niederzubrennen, doch offenbar hatten sie die Widerstandsfähigkeit des alten Bauwerks völlig unterschätzt. Das Dach war fort, das Gemäuer schwarz und oben an der Turmspitze fehlte ein Stockwerk. Der Rest der Steine stand aufrecht wie ehedem und bot den Osmanen und ihren Kanonen Schutz. Darüber hinaus hatten die feindlichen Soldaten in den letzten Tagen einen Wall vor dem Turm aufgeschüttet und dort weitere Geschütze aufgestellt.
    Ein Landsknecht in wechselseitig schwarz und rot geteilten Gewändern näherte sich. Haar und Gesicht wirkten schmutzig und er stank. Sorgsam stellte er seine Arkebuse am Mauerwerk ab. Die Schusswaffe ging dem Mann bis zur Brust. Sie bestand halb aus Holz, mit einem aufgesetztem Rohr. Einfache Mechanismen aus Stahl dienten zum Einspannen der Lunte. Der Gürtel des Landsknechts war mit den übrigen Utensilien bestückt, die man für das Abfeuern der Waffe vermutlich brauchte - Lucas hatte noch nie eine von nahem gesehen. Darunter waren eine lange, zur Schlaufe gebundene Lunte, ein Bandolier mit kleinen Beutelchen, in denen sicher die Kugeln steckten, sowie eine große und eine kleine Flasche, in der sich Pulver und Zündkraut befinden mussten. Der Mann stellte sich mit dem Namen Karl vor, und Lucas erwiderte die Höflichkeit.
    »Die Reichweite der Kanonen reicht bis hier rüber, ich wäre ein bisschen aufmerksamer, Bursche«, sagte Karl.

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