Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Schicksalsleserin

Titel: Die Schicksalsleserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Falkenhagen
Vom Netzwerk:
fort: »Natürlich hat er etwas in der Hinterhand. Vielleicht haben die Janitscharen deshalb noch nicht gestürmt.«
    »Aber ich dachte, es hätte schon Angriffe auf die Mauern gegeben?«
    »Angriffe kann man das nicht nennen«, sagte Karl. »Irgendein Pascha hat versucht, sich die Belohnung vom Sultan zu holen, die bestimmt für denjenigen ausgesetzt ist, der als Erstes die Mauern überwindet. Sie haben ein paar halbherzige Versuche gegen das Schottentor gemacht. Nein, wenn die Janitscharen kommen, dann wirst du es merken. Dann werden die Türken alles geben, was sie haben. Das wird ein Sturm, wie Wien noch keinen erlebt hat.«
    Als der Student wieder normal hören konnte, drang der Klang des Primglöckleins an sein Ohr. Die zeitliche Orientierung ohne den Stundenschlag der Kirchenglocken fiel ihm schwer. Mehr noch, Wien fühlte sich nicht mehr an wie Wien, seit das Geläut der drei Dutzend Kirchtürme fehlte. Man hatte
das Geläut in Kriegszeiten ausgesetzt. »Ich muss los. Bericht erstatten vor meiner Patrouille.«
    »Patrouille? Wo lang?«
    »Oben beim Salzgries. An der Nordmauer«, fügte er hinzu, denn der Landsknecht kannte sich ja vermutlich nicht gut aus in der Stadt.
    »Ach, am Fluss. Pass bloß auf, dass die Nassadisten nicht kommen, die Matrosen der Osmanen. Die können auch verdammt gut mit dem Säbel umgehen.«
    »Mach ich, danke schön.« Damit verabschiedete Lucas sich. Er kehrte an Sankt Stephan vorbei zurück zum Hohen Markt, der inzwischen vollständig von Landsknechten besetzt zu sein schien. Sie hatten bedenklich nah an den Wänden der Häuser Feuer entzündet, um vor Wind und Regen geschützt zu sein, hatten Wachstücher als Dächer auf Piken aufgespannt und widmeten sich nun in ihren freien Stunden dem Ringen, Würfeln und Saufen. Lucas war immer auf der Hut, denn die Männer schwankten zwischen Schlachteinsatz und Langeweile und fühlten sich wie die Herren von Wien.
    In der Schranne angekommen erstattete Lucas Pernfuß Bericht. Er erwähnte nicht, dass die Löcher in den Mauern grober Unfug waren und Graf Salm angeordnet hatte, sie wieder zu schließen. »Der Landsknecht auf der Mauer sagte allerdings, Ihr möget selbst mit Graf Salm sprechen, was weitere Abrisse an Häusern entlang der Stadtmauer angeht«, meldete er pflichtschuldig.
    »Der verdammte Salm«, fluchte Pernfuß. »Wir brauchen keine Türken, um unsere Stadt zu vernichten - ein paar übereifrige Soldaten tun das auch!« Zwar hatte Lucas bereits ähnliche Gedanken gehegt, doch von Übereifer konnte keine Rede sein. Graf Salm war erst im September zur Verteidigung hinzugekommen. Seitdem hatte er die Situation Wiens nur verbessert.

    Danach wartete Lucas ungeduldig, bis Wilhelm Hofer sich ebenfalls gegen die Kälte gewappnet hatte. Den Weg die Wilpingerstraße am Rathaus vorbei verbrachten sie in eisigem Schweigen. Man hätte die Luft zwischen ihnen schneiden können.
    Vorbei am Passauer Hof und der Marienkirche, die über der abschüssigen Senke zum Donauarm thronte, hielten sie vor den Stufen der Fischerstiege inne, die hinunter zum Gestade führten. Hier hatte Hofer das letzte Mal seinem Misstrauen Ausdruck gegeben, und Lucas wartete nur auf das, was dieses Mal kommen würde. Doch der Mann trat ohne Zögern als Erstes auf die Stufen und ging hinunter. Er schonte seine Seite nicht mehr ganz so sorgfältig, offensichtlich verheilte die Wunde gut. Lucas folgte ihm. Würde Hofer endlich Ruhe geben? Sie traten auf den noch gefrorenen Schlamm in den Niederungen vor dem Werderturm, dort wo der Salzgries an der Mauer entlangführte.
    »Hast ja alle gut getäuscht, was?«, fragte der Zimmermann. »Aber nicht mich.«
    Lucas seufzte innerlich. Da war es also. »Was meint Ihr damit - getäuscht?«
    »Dass’ dich einfügst und die anderen Gerichtsknechte dich anerkennen. Mögen sie tun - sogar Pernfuß hat seine Meinung geändert. Ich halt weiterhin ein Auge auf dich, Bürschlein!«
    »Pernfuß hat seine Meinung über mich geändert?«, fragte der Student überrascht. Der Stadtrichter benahm sich ihm gegenüber genauso unleidig und herrisch wie immer, wenn auch ein wenig umgänglicher als noch zu Beginn der Belagerung. Vielleicht hatte Hofer Recht.
    »Gewiss. Hätt’ nicht gedacht, dass der Mann so weich ist. Aber ich werd nicht vergessen, was du getan hast, dass’d das weißt!« Hofer schnaufte.

    Lucas breitete in einer fragenden Geste die Hände aus. »Habt Ihr nie einen Fehler begangen, Meister? Habt Ihr nie etwas getan, was Ihr

Weitere Kostenlose Bücher