Die Schicksalsleserin
ein Sekretarius auf der Burg - eine Chronik der Ereignisse schreibt. Damit es eine Niederschrift gibt, falls er es nicht überlebt. Ich habe mir gedacht, dass es ebenso passend wäre, wenn man sehen könnte, was passiert ist. Wenn man jede wichtige Schlacht, jeden Sieg, jede Niederlage aus Bildern ablesen könnte.« Er setzte sich auf. »Vielleicht kann ich dann zum Schluss alle Skizzen zu einem einzigen Bild zusammenfügen, weißt du? Mit dem Stephansturm als Mittelpunkt. Und man könnte eine Karte anfertigen, die in jede Himmelsrichtung zeigt, und darauf sehen, was geschehen ist. Man sieht die Dinge dann, als befände man sich genau hier, in der Türmerstube.«
Dieser Plan nötigte Madelin gehörigen Respekt ab. Sie deutete
auf die gemalte Vorstadt auf der Wieden. »Dort ungefähr war das Haus meiner Schwester.« Sie hoffte einmal mehr, dass Anna Krems sicher erreicht hatte.
Franziskus las ihre Gefühle offenbar in ihren Gesichtszügen. »Es geht ihr sicher gut, Madelin.«
»Vermutlich geht’s ihr besser als uns. Wir können nur darauf warten, dass die Osmanen die Tore stürmen und allem ein Ende machen.« Sie seufzte. »Aber ich weiß es halt nicht. Da mache ich mir Sorgen.«
»Sorgen sind gut. Aber lass nicht zu, dass sie dich verschlingen.« Franziskus nahm sie in den Arm.
Madelin nickte. »Ich will’s versuchen.«
»Und jetzt lass mich noch ein wenig in Ruhe, ja? Ich will die Skizze fertig machen. Und ich habe versprochen, sie dem Wachmann dort, Alfons heißt er, später auch noch zu zeigen.« Er zwinkerte sie an.
Madelin stemmte lächelnd die Fäuste in die Seiten. »Ich hänge dir wohl zu sehr auf der Pelle, wie?« Dann stand sie auf und blickte gedankenverloren gen Nordwesten auf Wien hinab.
Wie schon so oft an diesem Tag griff sie zu der Gürteltasche an ihrer Seite. Sie zog das Tuch mit dem neuen Trionfi-Spiel heraus und befreite es von dem Stoff. Dann steckte sie die Karten vorsichtig ineinander, immer wieder, um sie sorgfältig zu durchmischen. Sie nahm einen tiefen Atemzug, zog ihr besticktes Tuch so über den Kopf, dass es ihr Gesicht halb vor der Sonne verbarg, und schloss die Augen.
Madelin ließ sich in die Schwärze in ihrem Inneren fallen. Sie sperrte die Außenwelt aus und überließ sich ganz dem Strom ihrer Gefühle. Das Licht war früher so leicht, fast von selbst gekommen. Warum nur fand sie es in den letzten Tagen nicht mehr? Hing das wirklich damit zusammen, dass ihr alter Stoß Karten verbrannt war? Aber wenn sie zurückdachte, war es ihr
schon bei Anna schwerergefallen als sonst, die Flamme zu entzünden. Was hinderte sie also?
Endlich fühlte sie sich bereit. Sie versuchte, der Kerze Leben einzuhauchen, stellte sich das Flackern des Flämmchens vor, erst blau am Docht, dann orange, schließlich ein helles, loderndes Gelb. Sie rief sich die Hitze ins Gedächtnis, die warme Glocke der Helligkeit darüber. Doch alles, was blieb, war Schwärze.
Madelin wusste nicht, wie lange sie dort so gestanden hatte. Irgendwann öffnete sie wieder die Augen und seufzte. Es ging nicht mehr. Sie würde ohne das Licht in ihrem Inneren versuchen müssen, Geld zu verdienen. Sie tat das nicht gerne, denn es bedeutete, dass sie raten musste, was die Karten sagen wollten.
Jetzt zog sie blind eine Karte aus dem Stoß und drehte sie um. Es war das Ass der Münzen. Madelin lächelte traurig. Wenn sie noch eine Rechtfertigung brauchte, die Karten zum Geldverdienen zu benutzen, dann hatte sie sie eben erhalten.
»Was heißt das - soll ich Leben führen wie Einsiedler?«, fragte der Hispanier in entsetztem Ton. »Ich will wissen, ob ich soll werben um die Hand der schönen Elena, oder doch die reiche Margerita!«
Madelin hielt die Augen fest geschlossen und lächelte. »Die Karte des Einsiedlers bedeutet nicht, dass du dich den Frauen nicht mehr hingeben sollst, Carlos. Du sollst einfach weise wählen; nicht überstürzt handeln.«
»Jetzt bin ich schlau wie vorher«, schmollte der schöne Mann. »Soll ich weise meinem Herzen folgen oder weise den Wunsch meines Vaters achten?«
»In beidem liegt eine andere Weisheit«, erwiderte die Wahrsagerin. »Die Frage ist, ob du dein eigenes Schicksal oder das
der Familie voranstellst.« Die Fragen der Menschen hatten sich meist um die Belagerung gedreht, die inzwischen seit sieben Tagen anhielt - Carlos’ Bitte war eine erfreuliche Abwechslung.
»Du sprichst unsere Sprache beinahe ohne Fehler«, stellte Madelin fest. Sie öffnete die Augen und blinzelte
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