Die Schicksalsleserin
Junge mit einem Säbel, der vielleicht ein, zwei Jahre älter war. Der Junge erhob die Waffe und schlug nach ihm.
»Nein!«, schrie die Mutter und lief los. »Lasst ihn in Ruhe! Fritzl!«
»Mama!«, rief der Junge und ließ seinen Säbel fallen. Er versuchte, ihr entgegenzulaufen, doch einer der Soldaten schnappte ihn und hielt ihn fest.
»Lasst ihn los!«, rief Anna. Sie drängte sich an den Männern vorbei, zog ihren Sohn aus dem Griff des Mannes und schmiegte ihn an sich. Fritzl umklammerte ihr Bein. »Was soll das?«, fauchte sie die Soldaten an.
Anna stand im Kreis der Männer. Die beiden vordersten gehörten zu jenen, die ihr Gewalt angetan hatten. Ihre Hände bebten, doch sie wich nicht zurück, und sie senkte auch nicht den Blick. »Lasst die Kinder zurück zu ihren Müttern. Bitte.«
Der Mann, der Fritzl festgehalten hatte, erhob sich nun. »Was machst’ hier, Weib?«, fragte er mit starkem Akzent.
»Ich habe mein Kind gesucht. Und wenn die anderen Frauen wach werden, bin ich nicht die Einzige!«
Die Männer lachten. » Was willst’?«, fragte der Mann, als hätte er sich verhört. Er trug einen Fellüberwurf und eine Pelzmütze sowie den Köcher der Sturmreiter am Gürtel. Eine Narbe überzog seine ganze Wange und spaltete ihm Bart und Oberlippe.
»Meinen Sohn mitnehmen«, wiederholte Anna. Vermutlich hatte er sie nicht verstanden.
Die Narbe verzog sein Lächeln zu einer Grimasse. »Willst’ jedes Mal laufen, wenn ihm jemand etwas tut?«
»Er - er ist erst fünf«, gab Anna zurück.
»Wird bald ein Janitschar«, sagte der Reiter grinsend. »Kein Akindschi. Nicht genug Mumm!« Er übersetzte das in seine Sprache, und die Männer lachten wieder.
»Lasst ihn gehen, bitte. Ich nehme die Kinder mit zurück in die Kirche. Wir werden keinen Ärger machen.«
Der Narbengesichtige spie aus. »Nichts da! Wirst’ ihn kämpfen sehen!« Er gab ein paar Befehle an den Soldaten, der Anna am nächsten stand. Der fasste sie bei den Schultern und zog sie fort, während der Narbengesichtige Fritzl ergriff und festhielt.
»Nein!«, rief Anna wieder, und das Kind weinte. »Fritzl, alles ist gut!«
Fritzl presste die Lippen zusammen und schüttelte ängstlich den Kopf. »Geh nicht weg! Mama!«
»Wird Zeit, ein Mann zu sein! Heb den Säbel!«, befahl der Mann mit der Narbe.
Dem Buben rollten die Tränen die Wangen hinunter.
»Heb - ihn - auf«, knurrte der Reiter.
»Fritzl, tu, was er sagt. Alles wird gut. Bitte!«, rief Anna. Dann wandte sie sich wieder an die Männer. »Bitte, lasst ihn doch einfach gehen. Er ist erst fünf, er kann Euch noch nicht von Nutzen sein!«
»Halt den Mund!« Der Mann, der Anna festhielt, versetzte ihr eine Ohrfeige. Sie hielt sich die Wange und bekämpfte die Tränen, die ihr der Schmerz in die Augen trieb.
»Du«, befahl der Narbengesichtige dem zweiten Jungen. »Greif an.«
Anna kannte den Jungen, der Fritzl gegenüberstand, nur flüchtig. Er war der Sohn einer Wäscherin und eines Goldgräbers - eines Kloakenreinigers. »Gunter«, bat sie den anderen. »Tu das nicht.«
Doch Gunter gehorchte dem Narbengesichtigen. Er hob den Säbel und stellte sich damit auf, wie er es offenbar gezeigt bekommen hatte.
»Schlag den feigen Jungen«, befahl der Mann.
Gunter machte einen Schritt auf Fritzl zu. Anna las die Angst in seinen Augen. »Fritzl«, stammelte Anna. »Heb die Waffe auf.« Die Männer lachten.
»Bitte, Fritzl, ich weiß, du hast Angst. Aber der Junge wird dir wehtun, wenn du es nicht tust. Heb die Waffe auf.«
Fritzl sah mit tränenverschmiertem Gesicht zu ihr auf. Endlich bückte er sich zitternd und hob den Säbel am Griff auf, wobei das vordere Ende noch auf dem Boden lag - der Stahl war zu schwer für den Jungen.
Gunter machte noch einen Schritt näher auf Annas Sohn zu und hob mit entschlossenem Blick seine Waffe. Die Frau rief: »Heb ihn hoch! Fritzl, heb den Säbel hoch!«
Fritzl riss den Arm hoch, er wollte sein Gesicht schützen. Anna schrie auf, als ihn die Klinge traf. Das Kind heulte auf vor Schmerz, doch die Männer lachten. »Nochmal, Junge!«, rief der Narbengesichtige. Gunter, angespornt durch das Lob, hob die Waffe zu einem zweiten Schlag. Fritzl fiel weinend zu Boden.
Anna trat den Mann, der sie hielt, mit dem Knie in seine Eingeweide und riss sich los, die Linke legte sie schützend um Elisabeths Leib. Sie stürmte zu ihrem Sohn, griff sich den Säbel und parierte den Schlag des anderen Jungen. Dann warf sie die Waffe weg und gab ihm eine
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