Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«
gewesen wären, hätte man sie um den Grund ihrer Wut gefragt.
Von der Anhöhe aus, die er mit Harry Rhodes erklommen hatte, gewahrte der Kawdjer, als er nach dem Lager blickte, zunächst nur eine Rauchwolke, deren schwere Flocken ins Meer sanken. Die Häuser verschwanden in dieser Wolke. Verworrenes Stimmengewirr drang herüber: Schreie, Flüche, Ausrufe des Schmerzes und der Todesangst. Ein einziges lebendes Wesen, ein Mensch, wurde in der Ebene über dem Flusse sichtbar. Er lief aus Leibeskräften, obwohl ihn niemand verfolgte. Ohne seinen Lauf zu verlangsamen, kam dieser Mensch über die Brücke, überschritt sie und ließ sich dann ganz atemlos hinter der bewaffneten kleinen Truppe zu Boden sinken. Jetzt erst erkannte man – Ferdinand Beauval.
Das alles sah der Kawdjer. In seiner Einfachheit war das Bild doch so beredt, er verstand sofort den ganzen Zusammenhang: Beauval war mit Schimpf und Schande verjagt, zur Flacht gezwungen worden und die Meuterer brannten und mordeten in Liberia.
Was bedeutete dies alles? Daß man sich Beauvals entledigt hatte, begriff er. Aber warum diese Zerstörung, deren Opfer die Plünderer selbst sein würden. Warum dieses Abschlachten, das sich durch ferne Schreie verriet, die von der wilden Raserei der Mörder erzählten.
Also so weit hatten es die Menschen gebracht. Nicht nur um kleinlicher Interessen willen wurden sie böse; wenn ein Grund fehlte, so waren sie es zum bloßen Vergnügen; sie schlugen – um zu schlagen; sie zerstörten – um zu zerstören; sie mordeten, weil es ihnen Freude machte, zu morden! Nicht nur die Bedürfnisse, die Leidenschaften und der Hochmut waren die Triebfedern des Hasses unter den Menschen; auch der Wahnsinn war darunter zu zählen. Jener Wahnsinn, der in der Masse zum Leben erwacht und der die Menschen nicht früher zur Vernunft kommen läßt, als bis sie ihre Mordlust und Zerstörungswut gesättigt haben. Und es ist derselbe Wahnsinn – Heroismus oder Räubertum, je nach der Gelegenheit – der den Banditen den friedlichen Wanderer erschlagen läßt; der Wahnsinn macht während einer Revolution aus Schuldigen und Unschuldigen eine gemeinsame Hekatombe; und es ist derselbe Wahnsinn, der Armeen begeistert und Schlachten gewinnen läßt.
Was wurde jetzt angesichts dieser neuen Tatsachen aus den Träumen des Kawdjer? Wenn die Freiheit eines der natürlichen Güter des Menschen war, so konnte dies nur unter der Bedingung sein, daß sie eben Menschen bleiben mußten und sich nicht in reißende Tiere verwandeln durften wie diejenigen, deren Heldentaten er jetzt mitansehen mußte.
Der Kawdjer hatte Harry Rhodes nicht geantwortet. Aufrecht und still stand er auf dem höchsten Punkte des Ufers da und betrachtete sich das Bild während einiger Minuten schweigend. Die schmerzlichen Überlegungen seines Inneren verriet sein undurchdringliches Äußere nicht.
Und doch war seine Seele von einem grausamen Zwiespalt zerrissen. Sollte er auch fernerhin vor den Tatsachen die Augen schließen und sich egoistisch und eigensinnig auf eine falsche Religion steifen, während diese unglücklichen Toren sich gegenseitig ermordeten, oder sollte er die Tatsachen anerkennen, der Vernunft gehorchen, Ordnung schaffen in diesen ungeregelten Zuständen und sie gegen ihren Willen retten? Fürchterliches Dilemma! Was sein gerader Menschenverstand ihm gebot, das war leider die Verneinung seines bisherigen Lebens.
Es ist so schwer, sich und anderen einzugestehen, daß das im Herzen errichtete Idol zu seinen Füßen in Staub zerbröckelt; daß man von einem Gaukelspiel genarrt worden ist; daß man bisher auf Lügen aufgebaut hat; daß nichts von dem, das man für wahr gehalten hat, wahr ist und daß man sein Leben für eine Schimäre gelebt hat!
Plötzlich löste sich aus dem Rauch, der Liberia bedeckte, eine Gestalt los, ein Flüchtling, dann ein zweiter, dann zehn, hundert andere, meistens, Frauen und Kinder. Einige suchten nach den im Osten gelegenen Höhen zu entkommen, aber die größte Anzahl, der die Verfolger auf dem Fuße folgten, lief in Todesangst auf Neudorf zu. Die letzte unter den Fliehenden war eine Frau. Sie war ziemlich stark und konnte sich nur schwerfällig fortbewegen. Ein Mann erreichte sie in ein paar Sprüngen, packte sie bei den Haaren, warf sie zu Boden und erhob die Faust…
Der Kawdjer drehte sich zu Harry Rhodes um und sagte sehr ernst:
»Ich nehme Ihren Vorschlag an.«
Ende des zweiten Teiles .
Dritter Teil.
Erstes Kapitel.
Die ersten
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