Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«
Eingreifen?…
Lag es überhaupt in der Macht irgendeines Menschen, wessen Geistes er immer sei, ein Volk aus sich selbst herauszureißen, es emporzuheben aus dem Morast, in den es durch seine Fehler und Laster, seine geistige und moralische Unzulänglichkeit gefallen war; es zu erretten von dem Niedergange, für den es aus eben diesen Gründen vorherbestimmt war?
Kaltblütig schätzte der Kawdjer das Gewicht der Last ab, die er auf seine Schultern genommen hatte. Er suchte sich über seine Verpflichtungen ganz klar zu werden und forschte nach den passendsten Mitteln, von deren Anwendung er Erfolg erhoffen durfte. Er mußte vor allem diese armen Leute vom Hungertode erretten!… Das war die erste und notwendigste Pflicht! Und das war wenig im Vergleich zur Größe des ganzen Unternehmens.
Leben heißt nicht nur, für die materiellen Bedürfnisse der Organe Sorge tragen, es heißt auch – und mehr noch – seiner menschlichen Würde bewußt sein, nur auf sich selbst zählen, sich für den Nächsten opfern, stark und gut sein! Wenn die Lebenden vom Hungertode errettet wurden, blieb die schwerere Pflicht zu erfüllen: aus diesen Lebenden Menschen zu machen!
Ob diese Entarteten überhaupt fähig waren, sich zu diesem Ideale aufzuschwingen? Alle gewiß nicht; aber vielleicht gab es einzelne unter ihnen, die sich zur Höhe emporarbeiten konnten, wenn man ihnen den Stern am Himmel zeigte, den ihre Augen bisher zu blöde gewesen zu entdecken; wenn man sie an der Hand faßte und zum Ziele hinführte. Das waren die Gedanken des Kawdjer in dieser stillen Nacht. So war nach und nach auch sein letzter Widerstand gebrochen, sein letztes Sträuben besiegt und es formte sich in seinem Geist der Plan, der künftighin allen seinen Akten zur Richtschnur dienen mußte.
Die Morgenröte fand ihn schon auf den Beinen; er kehrte soeben von Neudorf zurück, wo er zu seiner Freude konstatieren konnte, daß Halgs Befinden sich zum Besseren neigte. Nach Liberia zurückgekehrt, erinnerte er sich seiner Pflichten als Gouverneur und handelte darnach.
Sein erstes Beginnen setzte selbst die ihm am nächsten Stehenden in Erstaunen. Er rief die zwanzig oder fünfundzwanzig Arbeiter – Maurer und Tischler – zusammen, welche sich unter der Bevölkerung der Insel befanden, stellte ihnen ungefähr zwanzig Kolonisten zur Seite, solche, die mit Hacke und Spaten umzugehen verstanden, und teilte einem jeden seine Arbeit zu.
An einer bestimmten Stelle mußten Gräben aufgeworfen werden, wo die Mauern eines der zerlegbaren Häuser aufgestellt werden sollten, das an diesem Platze zu errichten war. Waren die Maurer so weit gekommen, so sollten sie die Festigkeit der Wände durch aufzuführende Stützmauern erhöhen, dann sollte das Haus – nach einem vor ihren Augen in den Sand gezeichneten Plane – durch Verschläge in Abteilungen zerlegt werden.
Nachdem diese Weisungen erteilt waren und man unter der Aufsicht des zur Würde eines Werkmeisters erhobenen Hobard zur Ausführung schritt, entfernte sich der Kawdjer mit seinem Gefolge von zehn Mann.
In nächster Nähe stand das größte der zerlegbaren Häuser. Es war von fünf Personen bewohnt. Hier hatte in Gesellschaft der Brüder Moore, Sirdeys und Kennedys Lewis Dorick seinen Wohnsitz aufgeschlagen. Dahin ging der Weg des Kawdjer.
Als er hinkam, waren die fünf Männer in einem lebhaften Wortwechsel begriffen; bei seinem Eintreten erhoben sie sich brüsk.
»Was suchen Sie hier?« fragte Lewis Dorick in seinem unfreundlichen Ton.
Von der Schwelle aus erwiderte der Kawdjer kalt:
»Die Kolonie braucht dieses Haus.
– Braucht dieses Haus?… wiederholte Dorick, welcher, wie man zu sagen pflegt, seinen Ohren nicht traute. Wozu denn?
– Für ihre Zwecke. Ich muß Sie ersuchen, es sofort zu räumen.
– Sonst nichts? fragte Dorick spöttisch. Und wohin sollen wir dann gehen?
– Wohin Sie wollen; es steht Ihnen frei, sich ein anderes Haus zu bauen.
– Zu gütig!… Und bis dieses fertiggestellt ist…
– Stehen Ihnen Zelte zur Verfügung!
– Und ich weise Ihnen die Türe, schrie Dorick, hochrot vor Zorn.«
Der Kawdjer trat zurück, so daß sein bewaffnetes Gefolge sichtbar wurde, welches vor der Türe stehen geblieben war.
»In diesem Falle, sagte er eisig, würde ich mich gezwungen sehen, meine Forderung mit Gewalt zu unterstützen.«
Lewis Dorick begriff augenblicklich, daß jeder Widerstand vergeblich war und lenkte ein:
»Gut, gut! brummte er; man geht ja schon! Aber wir brauchen
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