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Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Titel: Die Schiffbrüchigen des »Jonathan« Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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einzustellen.
    John Rame war wohl der am wenigsten taugende Mensch in der Kolonie. Es war zu wundern, daß es der Kawdjer verstanden hatte, in diesem energie-und willenlosen Schwächling wenigstens eine gute Seite ausfindig zu machen. Während sich die Organisation des hostelischen Staates in dieser Weise langsam ausbildete, entwickelte der Kawdjer eine bewunderungswürdige Tätigkeit.
    Er hatte Neudorf endgültig verlassen. Seine Instrumente, Bücher, Medikamente waren alle in das »Regierungsgebäude« – mit diesem Namen bezeichnete man schon das ehemalige Haus Doricks – geschafft worden. Dort schlief er auch täglich einige Stunden. Die übrige Zeit war er überall gleichzeitig. Er eiferte die Arbeiter an, half die Schwierigkeiten, in dem Maße, wie sie sich einstellten, aus dem Wege räumen und hielt mit Ruhe und Festigkeit die gute Eintracht und Ordnung aufrecht. Niemand würde gewagt haben, in seiner Gegenwart einen Streit zu beginnen; er brauchte sich nur zu zeigen, so ging die Arbeit rascher vonstatten und die Muskeln lieferten ihr Maximum an Kraftleistung.
    Von diesem armen Volke, das er einer besseren Zukunft zuzuführen unternommen hatte, ahnten selbstverständlich nur die allerwenigsten, welche Kämpfe sich vorher in seinem Inneren abgespielt hatten, und selbst wenn ihnen die Tatsache nicht unbekannt geblieben, waren sie viel zu wenig Seelenkenner und es gebrach ihnen an der nötigen idealen Auffassung, um nur im entferntesten vermuten zu können, welche Verheerungen in dieser Männerbrust der Konflikt von Abstraktionen hervorgerufen hatte, die so ganz verschieden von ihren eigenen materiellen Sorgen waren. Aber wenn sie ihren Gouverneur aufmerksam anblickten, so konnten sie erkennen, daß ein geheimer Kummer ihn bedrückte. Der Kawdjer war nie ein Mann vieler Worte gewesen – jetzt schien er wie versteinert. Sein unbewegliches Gesicht lächelte niemals, seine Lippen öffneten sich nur, um das Notwendigste zu sprechen und dies in möglichster Kürze. Er flößte den Kolonisten Furcht ein sowohl wegen seines finsteren Aussehens als seiner herkulischen Kraft halber; man fürchtete ihn und – bewunderte gleichzeitig seinen Geist und seine Willenskraft und man liebte ihn um der Güte willen, die sich unter der eisigen Außenseite verbarg, man verehrte ihn dankbar um der vielen Liebesdienste willen, die er ihnen erwiesen hatte und noch erweisen würde.
    Die Vielseitigkeit der Beschäftigungen erschöpfte den Kawdjer keineswegs; der Regent störte den Arzt nicht. Jeden Tag besuchte er seine Kranken und die beim letzten Aufstand Verwundeten. Er hatte übrigens täglich weniger zu tun. Unter der dreifachen Einwirkung der günstigeren Jahreszeit, der Arbeit und des Friedenszustandes besserten sich die Gesundheitsverhältnisse der Kolonie zusehends.
    Unter allen Kranken und Verwundeten stand Halg seinem Herzen natürlich am nächsten. Er scheute kein Unwetter, keine Ermüdung, nach ihm zu sehen. Jeden Morgen und jeden Abend war er am Lager des jungen Indianers anzutreffen, das Graziella und deren Mutter nicht mehr verließen. Wie glücklich war er, als er eine fortschreitende Besserung konstatieren konnte. Bald hatte er die Sicherheit, daß die Lungenwunde zu vernarben begann. Am 15. November konnte Halg zum ersten Male das Lager verlassen, das ihn fast einen Monat lang gefesselt gehalten hatte.
    An diesem Tage begab sich der Kawdjer in das von der Familie Rhodes bewohnte Haus.
    »Guten Morgen, Frau Rhodes!… Guten Tag, Kinder! sagte er beim Eintritt.
    – Guten Tag, Kawdjer,« tönte es zurück.
    In dieser herzlichen Atmosphäre vergaß er seine gewöhnliche Kälte und Starrheit; Edward und Clary schmiegten sich an ihn, er küßte das Mädchen väterlich auf die Stirne und streichelte die Wange des jungen Mannes.
    »Endlich kommen Sie wieder einmal, Kawdjer, sagte Frau Rhodes mit leisem Vorwurf; ich wußte gar nicht mehr, ob Sie noch unter den Lebenden weilen.
    – Ich habe sehr viel zu tun gehabt, Frau Rhodes.
    – Ich weiß es, Kawdjer, ich weiß, sagte Frau Rhodes, ich freue mich jetzt um so mehr, Sie wieder zu sehen… Hoffentlich bringen Sie mir Nachricht von meinem Manne.
    – Ihr Mann ist verreist, Frau Rhodes. Mehr weiß auch ich nicht.
    – Vielen Dank für die Auskunft!… Aber wann wird er zurückkommen?
    – Nicht so bald, Frau Rhodes. Ihr Witwentum wird nicht so schnell beendigt sein.«
    Frau Rhodes seufzte traurig.
    »Sie müssen deshalb nicht traurig sein, Frau Rhodes, tröstete der Kawdjer.

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