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Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Titel: Die Schiffbrüchigen des »Jonathan« Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Menschheit, welche – falls der Schaluppe ein Unfall zustoßen sollte – vielleicht niemals vom Verbleib und Ergehen ihrer bedauernswerten Brüder Kenntnis erlangen wird!
    Dem Wüten des Orkans folgte eine Periode völliger Windstille. Man benützte sie, um eine Zählung der überlebenden Emigranten und Matrosen vorzunehmen. Mit Hilfe der Passagierliste, die sich an Bord gefunden hatte, nahm Hartlepool die Zählung vor, die als betrübendes Ergebnis die Gewißheit brachte, daß nicht weniger als einunddreißig Menschen in der Unglücksnacht den Tod gefunden hatten. Von diesen Opfern der Katastrophe gehörten fünfzehn der Bemannung an, sechzehn waren Passagiere. Folglich waren noch eintausendeinhundertneunundsiebzig Auswanderer am Leben und neunzehn Mann (von den vierunddreißig auf der Mannschaftsliste genannten) der Besatzung. Rechnete man zu dieser Menschenanzahl die beiden Feuerländer und ihren Gefährten dazu, so erreichte die Kopfzahl der Bevölkerung der Insel Hoste die Ziffer eintausendzweihundertundeins: Männer, Frauen und Kinder.
    Der Kawdjer wollte das schöne Wetter nicht unbenützt vorübergehen lassen, um die dem Lager zunächst gelegenen Teile der Insel auf ihren Wert hin zu untersuchen; es wurde bestimmt, daß Hartlepool, Harry Rhodes, Halg und drei der Emigranten: Gimelli, Gordon und Ivanoff (der erste italienischer, der zweite amerikanischer und der dritte russischer Abstammung), ihn auf der kurzen Expedition begleiten sollten. Aber im letzten Augenblick tauchten noch zwei Bittsteller auf, welche mitgenommen werden wollten.
    Der Kawdjer begab sich gerade nach dem gemeinsam verabredeten Versammlungsort, als seine Aufmerksamkeit durch zwei Kinder gefesselt wurde, welche augenscheinlich auf ihn zuschritten. Sie mochten zehn Jahre zählen. Das eine derselben hatte eine unternehmende, fast kecke Miene aufgesteckt und kam mit hocherhobenem Kopfe dahermarschiert, das Näschen in der Luft; es bemühte sich, einen recht nachlässigen Gang zur Schau zu tragen, was einen komischen Eindruck machte. Das andere Kind folgte ihm schüchtern in einer Entfernung von fünf Schritten und sah sehr bescheiden aus, was zu der zarten, schmächtigen Gestalt gut paßte.
    Das erste, ein Knabe, sprach den Kawdjer an:
    »Exzellenz…,« begann er.
    Diese unvorhergesehene Ansprache belustigte den Kawdjer; er sah interessiert auf das kleine Bürschchen herab, das die stumme Prüfung tapfer aushielt, ohne die geringste Verwirrung zu zeigen oder die Augen zu Boden zu schlagen.
    »Exzellenz? wiederholte der Kawdjer lächelnd. Warum nennst du mich Exzellenz, mein Junge?«
    Der Knabe machte große, verwunderte Augen.
    »Ist das nicht die gebräuchliche Anrede für Könige, Minister und Bischöfe? fragte er, und es lag wie Angst in der zitternden Stimme, daß er die Regeln der Höflichkeit nicht genügend beobachtet habe.
    – Ah! rief der Kawdjer erstaunt. Und wo hast du denn gesehen, daß man Könige, Minister und Bischöfe mit »Exzellenz« anreden muß!
    – In den Zeitungen habe ich’s gelesen, antwortete das Kind, ganz stolz auf sein Wissen.
    – Du liest die Zeitungen?
    – Warum nicht? – Wenn man sie mir gibt!
    – Ah! ah! – Wie heißest du?
    – Dick.
    – Dick – und wie noch?«
    Der Knabe schien nicht zu verstehen.
    »Nun, welchen Namen hat dein Vater?
    – Ich habe keinen Vater.
    – Und deine Mutter, wie heißt sie?
    – Ich habe weder Vater noch Mutter, Exzellenz!
    – Wieder »Exzellenz«, sagte der Kawdjer, welcher für dieses eigenartige Kind ein stets wachsendes Interesse fühlte; so viel ich weiß, bin ich weder König, noch Minister, noch Bischof!
    – Sie sind aber der Gouverneur!« erklärte der Junge mit Nachdruck.
    Der Gouverneur!…. Der Kawdjer stand da, wie aus den Wolken gefallen.
    »Woher hast du denn diese Weisheit? fragte er endlich. Die Frage schien den Knaben zu verwirren.
    – Nun?« bestand der Kawdjer auf seiner Frage.
    Dick zögerte mit der Antwort und war sehr verlegen.
    »Ich weiß nicht, woher…, sagte er endlich stockend. Weil Sie immer befehlen… und – alle nennen Sie ja so!
    – Ah, wirklich! Dann trat der Kawdjer einen Schritt auf den Knaben zu und sagte mit ernster Stimme: Du bist im Irrtum, mein liebes Kind! Ich bin nicht mehr und nicht weniger als andere. Hier befiehlt niemand. Hier gibt es keinen Gebieter!«
    Dick öffnete seine Augen, so weit er konnte, und starrte den Kawdjer ganz ungläubig an. War es denn möglich, daß es keine Gebietenden gab in diesem Teile der Welt?

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