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Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Titel: Die Schiffbrüchigen des »Jonathan« Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Wie konnte er das glauben, er, ein Kind, für den die Erde bisher nur als von Tyrannen bevölkert erschienen war! Existierte wirklich irgendwo ein Wunderland ohne Herren?
    »Nein, hier gibt es keinen Gebieter, sagte der Kawdjer nochmals und erkundigte sich dann nach kurzem Schweigen:
    Wo bist du geboren?
    – Das weiß ich nicht.
    – Wie alt bist du?
    – Man sagt mir, daß ich bald elf Jahre alt werde!
    – Bist du bestimmt nicht älter?
    – Gewiß nicht!
    – Und dein kleiner Gefährte, der fünf Schritte hinter dir wie am Boden festgewachsen scheint, wer ist das?
    – Das ist Sand.
    – Dein Bruder?
    – Wie ein Bruder… Mein Freund.
    – Seid ihr vielleicht zusammen erzogen worden?
    – Erzogen? Dick schüttelte den Kopf. Wir sind nie erzogen worden, Herr.«
    Der Kawdjer fühlte tiefes Erbarmen. Wie traurig hörten sich die wenigen Worte an, die das Kind mit fast trotziger Stimme hervorstieß, wie ein streitlustiger, junger Kampfhahn! Wie? Es gab also Kinder, welchen niemals der Segen einer Erziehung zuteil geworden ist!
    »Wo hast du deinen Freund kennen gelernt?
    – In Frisco 1 , am Kai.
    – Ist das schon lange her?
    – Sehr, sehr lange… Wir waren damals noch ganz klein. Dick suchte seine Erinnerungen zu sammeln. O, das ist wenigstens sechs Monate her!
    – Wahrhaftig? Nun, das ist allerdings eine sehr lange Zeit,« gab der Kawdjer zu, ohne eine Miene zu verziehen.
    Er wandte sich an den schweigsamen Kameraden des merkwürdigen Jungen:
    »Jetzt komm du einmal her, aber »Exzellenz« darfst du nicht zu mir sagen. Hast du denn deine Zunge in die Tasche gesteckt?
    – Nein Herr, stammelte das Kind, indem es eine Matrosenmütze zwischen seinen Händen zerdrückte.
    – Warum sprichst du denn gar nichts?
    – Er ist ja so schüchtern, Herr,« erklärte Dick.
    Mit welch wegwerfender Miene er dieses Urteil fällte!
    »Ah, sagte der Kawdjer lachend, also schüchtern ist er! Du bist es wohl nicht!
    – Nein, Herr,« lautete die einfache Antwort.
    »Du hast auch ganz recht… Aber was macht ihr denn eigentlich hier?
    – Wir sind doch die Schiffsjungen, Herr.«
    Der Kawdjer erinnerte sich jetzt, daß Hartlepool in der Tat bei der Aufzählung der Schiffsmannschaft des »Jonathan« zwei Schiffsjungen erwähnt hatte. Bisher waren sie meist mit den Kindern der Emigranten zusammengewesen und er hatte sie noch nicht gesehen. Nachdem sie ihn heute angesprochen hatten, schienen sie ein Anliegen zu haben.
    »Wünscht ihr etwas von mir?« fragte er.
    Wie vorauszusehen, nahm Dick wieder das Wort.
    »Wir möchten mit Ihnen gehen, wie Mr. Hartlepool und Mr. Rhodes.
    – Warum denn?«
    Dicks Augen wurden ganz glänzend.
    »Um etwas Neues zu sehen!«
    Etwas Neues!… Eine ganze Welt lag in diesen Worten! Das Verlangen nach dem Unbekannten, die wunderbaren, verworrenen Träume der Kindheit! Dicks Gesicht war eine Bitte, seine ganze, zarte Gestalt sprach für die Erfüllung seines Wunsches.
    »Und du, wandte sich der Kawdjer an Sand, möchtest du auch etwas Neues sehen?
    – Nein, Herr.
    – Was willst du denn?
    – Mit Dick gehen, sagte leise das Kind.
    – Du hast ihn wohl sehr lieb, deinen Dick?
    – O ja, Herr, bestätigte Sand, dessen Stimme eine weit über sein Alter gehende Tiefe des Ausdruckes zeigte.«
    Der Kawdjer fühlte sein Interesse für die beiden kleinen Leute steigen. Er sah sie an! Welch ein einerseits belustigendes, anderseits reizendes und rührendes Zusammenhalten! Endlich entschied er:
    »Ihr könnt mit uns kommen!
    – Es lebe der Gouverneur, hoch!« riefen entzückt die beiden Kinder, welche einen wahren Freudentanz aufführten und ihre Mützen hoch in die Luft schleuderten.
    Durch Hartlepool erfuhr der Kawdjer die kurze Lebensgeschichte der beiden Freunde, seiner jüngsten Bekanntschaft; das wenige, was der Hochbootsmann berichten konnte, war sicher mehr, als die Kinder selbst wußten.
    Es waren von ihren Eltern verlassene, ausgesetzte Kinder, welche man eines Abends an einem Grenzstein gefunden hatte. Daß sie am Leben blieben, war eines der Wunder, die sich häufig genug ereignen und wofür die Vernunft vergebens eine Erklärung sucht! Sie lebten also und hatten vom zartesten Alter an ihr Brot verdienen müssen, was ihnen, dank ihrer minimalen Bedürfnisse, durch kleine Handreichungen, leichte Dienstleistungen auch gelang: Botengänge, Schuhputzen, Türöffnen, der Verkauf von Feldblumen – das waren die wunderbaren Erfindungen der jungen Köpfe, die ihnen wenige Münzen einbrachten; ihre Nahrung

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