Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«
gerissen.
»Willst du wohl achtgeben, du Tagedieb,« sagte gleichzeitig eine barsche Stimme.
Die Finger, die das Ohr des Knaben festhielten, waren nicht zart und der empfindliche Sand begann zu weinen.
Wahrscheinlich wäre die Sache damit abgetan gewesen, wenn sich der kriegerische Dick nicht hätte von seinem Temperament hinreißen lassen und seine Einmischung für nötig erachtet hätte.
Plötzlich mußte Fred Moore – das war der furchtbare Feind, welchen Sand beleidigt hatte – das Ohr seines Gefangenen loslassen, um sich gegen einen Angriff von hinten zu verteidigen. Ein unbekannter Verbündeter des Kindes – jeder kämpft mit den Waffen, die ihm gerade zur Verfügung stehen – hatte den rohen Menschen mit aller Kraft gezwickt. Rasch drehte sich dieser um und sah sich demselben kecken Jungen gegenüber, gegen den er schon einmal den Kürzeren gezogen hatte.
»Wieder du, verdammter Range!« schrie er und hob den Arm, um den winzigen Gegner zu züchtigen.
Aber Dick und Sand waren zwei verschieden veranlagte Persönlichkeiten. Das Ergreifen des einen bot keine Schwierigkeiten, aber Dick ließ sich nicht fangen. Er machte einen gewaltigen Seitensprung und lief davon, Fred Moore verfolgte ihn schimpfend und fluchend.
Von hier aus war das Lager zu übersehen… (S. 142.)
Die Verfolgung zog sich in die Länge. Jedesmal, wenn Fred Moore seinen kleinen Feind erreicht zu haben glaubte, entkam ihm dieser wieder durch eine geschickte Wendung und der immer mehr erregte Moore griff ins Leere. Aber das Spiel war zu ungleich, als daß es ewig dauern konnte. Die Länge der Beine Fred Moores und der des kleinen Dick ließ keinen Vergleich zu. Trotz der tapferen Haltung des Flüchtlings mußte der Augenblick kommen, wo er zur Ergebung gezwungen war.
Jetzt schien der Augenblick gekommen. Fred Moore, im vollen Lauf begriffen, brauchte bloß die Hand auszustrecken, um sein Opfer zu fassen, da stellte sich seinem Fuße ein Hindernis entgegen, er verlor das Gleichgewicht und stürzte schwer zu Boden, nicht ohne seine Hände und Kniee arg zu beschädigen. Dick und Sand benutzten diese Ablenkung, um sich schleunigst aus dem Staube zu machen.
Das Hindernis, das Fred Moore zu Fall gebracht hatte, war ein Stock, und dieser Stock war nichts anderes als Marcel Norelys Krücke. Um seinem Freunde in der Not zu helfen, hatte das Kind getan, was in seiner Macht lag, indem es die Krücke dem dahinrasenden Fred Moore zwischen die Beine warf. Jetzt war der Knabe glücklich über den errungenen Erfolg und lachte froh vor sich hin, ahnungslos, daß er eine heroische Tat vollbracht hatte. Ja, heroisch war die Tat! Denn als der arme Krüppel die ihm unerläßliche Stütze von sich warf, hatte er sich zur Unbeweglichkeit verdammt und mußte die Aufmerksamkeit Fred Moores auf sich lenken, der seine Wut nun an ihm auslassen würde.
Wutschnaubend erhob er sich. Mit einem Sprung stürzte er auf Marcel zu und hob ihn hoch in die Luft. Jetzt begriff das Kind die nackte Wirklichkeit und lachte nicht mehr, dafür stieß es unaufhörlich durchdringende Schreie aus. Aber der andere achtete nicht darauf. Seine schwere Hand hob sich – wieviel furchtbare Schläge wird sie austeilen –.
Aber sie kam nicht zum Niederfallen. Jemand hatte sie von rückwärts ergriffen und hielt sie mit eisernem Griff fest, während eine Stimme vorwurfsvoll sagte:
»Aber, Herr Moore… Ein Kind!«
Fred Moore drehte sich um. Wer erlaubte sich, ihn zu belehren? Er erkannte den Kawdjer, welcher, immer noch in tadelndem Tone, hinzufügte:
»Außerdem ein Krüppel!
– Sie haben sich nicht hineinzumischen, schrie Fred Moore; lassen Sie mich augenblicklich los, sonst…«
Der Kawdjer machte keine Anstalt, dem Befehl Folge zu leisten. Fred Moore versuchte sich mit Gewalt zu befreien, aber der Griff war wie von Eisen.
Da hob der Wütende die andere Hand, um das Kind zu schlagen. Ohne eine Bewegung zu machen, ohne eine Miene zu verziehen, preßte der Kawdjer stärker die Hand zwischen seinen Fingern. Der Schmerz mußte unerträglich sein, denn Fred Moore vollführte seine letzte Absicht nicht, seine Kniee wankten.
Da löste der Kawdjer seine Finger von dem gefesselten Handgelenk und gab ihn frei.
Der vor Wut sinnlose Fred Moore fuhr in seinen Gürtel und zog ein breites Bauernmesser. Er sah Blut, wie die Redensart lautet. In seinen Augen war Wahnsinn und Mord zu lesen.
Glücklicherweise warfen sich die anderen Spieler, welche von der ernsten Wendung, die die
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