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Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Titel: Die Schiffbrüchigen des »Jonathan« Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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die in seinem Kopfe herumstritten wie Soldaten auf einem Schlachtfeld. Die Zeiten waren vorüber, wo der Glaube auf das Recht der Menschen an unbeschränkte Freiheit ihm wie ein Dogma vorschwebte. Jetzt war er schwankend geworden in bezug auf seine freiheitlichen Grundsätze, den Nimbus unantastbarer Selbstverständlichkeit hatten sie ein für allemal eingebüßt. So weit war es mit ihm gekommen, daß er in seinem Inneren die Notwendigkeit der Autorität und einer gesellschaftlichen Hierarchie erwog!
    Die kommenden Ereignisse waren ganz darnach angetan, ihm neuerliche Beweise zugunsten der Notwendigkeit einer Autorität zu bringen, als sie ihm zeigten, daß es unter den Menschen, wie unter Tieren, wahre Bestien gibt, deren gefährlichen Anlagen kein Spielraum gelassen werden darf. Solche Menschen würden – um ihren ungezügelten Leidenschaften fröhnen zu können – Schrecken und Tod um sich verbreiten, wenn das Gesetz ihnen nicht gebieterisch »Halt« entgegenriefe! Ein Drama dieser Art, um so schrecklicher, weil der Hunger, diese elementare Forderung eines jeden lebenden Organismus, die Triebfeder war, spielte sich gerade zu der Zeit in dem Häuschen ab, das Patterson in Gesellschaft Longs und Blakers bewohnte; dieser letztere hatte von der Natur jenen unstillbaren Appetit als trauriges Erbteil bekommen, der in der Pathologie mit dem Namen Bulismus bezeichnet ist.
    Wie alle anderen hatte Blaker bei der Verteilung der Lebensmittel seinen vollen Anteil bekommen; aber dank seiner krankhaften Eßlust war er in weniger als zwei Monaten mit dem Quantum fertig, das auf das Auskommen während vier Monaten berechnet war. Der arme Teufel lernte wie früher – und mehr als früher – die Torturen des Hungers kennen. Wäre er weniger schüchterner Natur gewesen, so hätte er leicht ein Heilmittel für sein Leiden gefunden. Ein Wort der Bitte an den Kawdjer oder Hartlepool hätte genügt, um ihm einen neuen Zuschuß der Nahrung zu erwirken. Aber der geistig nicht sehr begabte Blaker kam nicht auf diese einfache Lösung, die ihm als ein verwegenes Vorgehen erschien. Von Kindesbeinen an hatte er sich nur in den allerärmsten Kreisen bewegt, so daß ihn sein Elend nicht mehr in Erstaunen setzte; er kannte die mehr denn passive Resignation, welche die letzte Zuflucht aller Unglücklichen ist. Nach und nach hatte er die Gewohnheit angenommen, wie ein gefühlloser Strohmann allen höheren Gewalten zu gehorchen; er gab sich gar nicht mehr die Mühe, über deren Wesen nachzudenken und niemals wäre ihm die tollkühne Hoffnung gekommen, in irgendeiner Weise in der Art der Verteilung der Lebensmittel eine Veränderung herbeiführen zu wollen, denn auch diese Verteilung war das Endergebnis des Waltens höherer Mächte.
    Lieber infolge der Entkräftung langsam sterben, als ein Wort der Klage laut werden lassen. Und dazu wäre es gekommen, hätte sich nicht Patterson seiner angenommen.
    Dem Irländer war es nicht entgangen, mit welcher Schnelligkeit die dem Gefährten zur Verfügung gestellten Nahrungsmittel verschwanden und mit dieser Wahrnehmung sah er gleichzeitig die Möglichkeit eines vorteilhaften Handelsgeschäftes aufdämmern. Während Blaker mit Gier alles verschlang, sparte sich Patterson die Bissen vom Munde ab. Sein Geiz brachte ihn so weit, daß er kaum das Nötigste genoß und sich nicht schämte, die von den anderen weggeworfenen Reste zu sammeln.
    Es kam der Tag, wo Blaker nichts mehr zu verzehren hatte. Auf diesen Augenblick hatte Patterson gewartet. Unter dem Deckmantel der Freundschaft bot er dem Gefährten einen Teil seiner Vorräte zum Verkaufe an; der Preis sollte nach gegenseitigem Übereinkommen bestimmt werden. Der Vorschlag wurde begeistert angenommen und der Handel ebenso schnell ausgeglichen als vorgeschlagen; er wiederholte sich des öfteren, so lange Blaker über Geld verfügte, wobei der Verkäufer unter dem Vorwand der sich immer mehr verringernden Lebensmittel mit dem Preise in die Höhe ging. Als Blakers Börse geleert war, änderte Patterson sein Benehmen. Er lieferte keinen Bissen mehr aus und blieb bei den flehentlichsten Blicken des Unglücklichen, den er zum Hungertode verurteilte, ganz ungerührt und erbarmungslos.
    Blaker beklagte sich ebensowenig wie früher, für ihn gab es eben kein Entrinnen vor den feindlichen Gewalten. In einem Winkel zusammengekauert brachte er viele Stunden unbeweglich zu, die Hände auf den in Hungersqualen schmerzenden Magen gepreßt, in stummer Resignation; seine

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