Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Titel: Die Schiffbrüchigen des »Jonathan« Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
konnte der Kawdjer den Mangel eines jeglichen Interesses bei vielen seiner Gefährten nicht begreifen. Wie wenige hatten den Mut gehabt, gegen den Müßiggang zu reagieren: die vier Familien, welche abgesondert von den übrigen im Inneren der Insel lebten, und die geringe Anzahl derjenigen, welche der Jagd auf Seewölfe nachgingen. Alle anderen ließen sich tatenlos dahintreiben, wie da die Tage kamen und gingen. Sie hatten eine Behausung und genügenden Lebensunterhalt – nach mehr fragten sie nicht. Sie kannten nicht das Bedürfnis, in ehrlicher Arbeit die Materie unter ihren Willen zu zwingen, wodurch dieser gestählt wird im Kampfe mit dem Schicksal; sie äußerten niemals den Wunsch, um den Preis einer Willensbetätigung ihre Lage zu verbessern, zu verschönern; sie hatten keinen Gedanken für die Zukunft. Es waren fügsame Sklavenseelen, bereit, an sie persönlich gerichtete Befehle auszuführen, aber zu einer eigenen Initiative schwangen sie sich nie auf und überließen die Sorge, in wichtigen Dingen für sie zu entscheiden, immer anderen.
    Der Kawdjer verstand sehr gut, daß diese allgemeine Schlaffheit, Feigheit die Ursache war, warum andere, energische Naturen eine fast unbeschränkte Gewalt an sich zu reißen gewußt hatten und diese überwiegende Majorität beherrschen konnten; warum einige skrupellose Individuen diese gedankenlose, willensschwache Menschenherde in so unverantwortlicher Weise ausbeuten konnten.
    So also war die menschliche Natur! Waren da nicht doch Gesetze notwendig, diese unvollkommenen Gesetze, die den Menschen zum Denken, zur Anspannung, Betätigung seiner Verstandeskräfte zum Zwecke der Überwindung der rohen Gewalten zwingen, welche dem Despotismus der einen wie dem Sklaventum der anderen vernünftige Grenzen ziehen und die bösen Instinkte nach Tunlichkeit im Zaum halten? Sobald aber die Nützlichkeit und Notwendigkeit der Gesetze gegeben ist, muß dann nicht folgerichtig die Autorität anerkannt werden, welche berechtigt ist, Gesetze vorzuschreiben, in Kraft zu erhalten und über ihre Durchführung zu wachen, Übertretungen zu bestrafen?
    Der Kawdjer war noch nicht so weit gekommen, diese Fragen bedingungslos zu bejahen, aber daß er sich damit beschäftigte, sie in ernstliche Erwägung zog, beweist, welche Wandlung in ihm, seinem Gedankenleben vorgegangen war.
    Er mußte eingestehen, daß der lebende, handelnde Mensch von Fleisch und Blut und das Idealbild, das er sich von dieser Krone der Schöpfung gemacht hatte, zwei grundverschiedene Wesen waren.
    Folglich konnte man ruhig zugeben, daß – um den einzelnen gegen sich selbst, seine Schwachheit, seine Gier und seine anderen Laster zu beschützen – Gesetze aufgestellt wurden, die ja eigentlich nichts anderes waren als der Ausfluß des Volkswillens; jeder verlangte Schutz in seinem eigensten Interesse; wie in der Mechanik die Resultierende die verschiedenen Einzelkräfte ersetzt, so waren die Gesetze eigentlich nichts anderes als die Zusammenfassung und Präzisierung der einzelnen Willensäußerungen.
    So lange der Kawdjer vor seinem Exil in dem Magalhães-Archipel die Alte Welt bewohnt hatte und sich von allen Seiten in die Maschen eines unentwirrbaren Netzes von Vorschriften verwickelt sah, aus denen es kein Entrinnen gab, hatte er diese Unmasse von Gesetzen, Vorschriften, Paragraphen, Dekreten nur als unleidlichen Zwang empfunden; die Zusammenhangslosigkeit, häufiger Widerspruch und der oft auf bloße Quälerei abzielende Charakter hatten ihn die höheren Motive übersehen lassen. Jetzt, wo er mit einem dem primitiven Urzustande nahe liegenden Volke zusammengetroffen war, konnte er an lebenden Beispielen studieren. Wie der Chemiker, über seinen Ofen gebeugt, die Ergebnisse wahrnimmt, so hatte der Kawdjer Gelegenheit, die unaufhörliche Reaktion zu beobachten, die im Schmelztiegel des Lebens vor sich geht. Durch die gemachten Erfahrungen erleuchtet, dämmerte in ihm eine Ahnung dieser Notwendigkeit auf, aber nicht, ohne sein tiefinnerstes Wesen ganz zu erschüttern. Der frühere Mensch mit seinen ihm liebgewordenen Ideen verlangte sein Recht. Seine nach Freiheit dürstende Natur bäumte sich gegen seinen Verstand auf. Das Problem stand unausgesetzt vor seinem geistigen Auge und in seinem Inneren tobte ein ununterbrochener, grausamer Kampf von Beweisgründen dafür und dagegen, der ihn müde und elend machte und unbefriedigt ließ.
    Einen noch größeren Grund des Staunens als die Unvollkommenheit der menschlichen Natur

Weitere Kostenlose Bücher