Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«
fürchterlichen Leiden standen in seinem schmerzverzogenen Gesichte zu lesen. Patterson betrachtete ihn mitleidslos. Was lag daran, wenn Blaker elend zugrunde ging; er besaß ohnehin nichts auf der Welt. Aber schließlich war der Schmerz mächtiger als die Resignation; nach achtundvierzig Stunden stummer Qual ging er wankend aus der Hütte, irrte im Lager umher und verschwand endlich…
Als eines Abends der Kawdjer in seine Ajoupa zurückkehrte, stieß sein Fuß im Dunkeln an ein Hindernis – es war ein ausgestreckter menschlicher Körper. Er beugte sich zu dem vermeintlichen Schläfer nieder und rüttelte ihn – die einzige Antwort war ein schmerzliches Stöhnen. Nachdem der Kawdjer ihm eine stärkende Flüssigkeit eingeflößt hatte, erkundigte er sich:
»Was fehlt Ihnen?
– Ich habe Hunger« antwortete Blaker mit schwacher Stimme.
Der Kawdjer war starr.
»Hunger, wiederholte er, hat man Ihnen denn nicht wie allen anderen den Ihnen gebührenden Anteil an Mundvorrat gegeben?«
Da erzählte ihm Blaker mit stockender Stimme und in kurzen, abgebrochenen Sätzen seine traurige Geschichte. Er sprach von seiner Krankheit, die sich in unstillbarem Hunger äußerte; wie seine Vorräte vorzeitig zu Ende gewesen seien, auf welche Weise dann Patterson ihm zuerst ausgeholfen und warum er ihn seit drei Tagen habe verhungern lassen.
Der Kawdjer hörte diesen unglaublichen Bericht in starrem Staunen an. Dieser Mensch hatte solch abscheuliche Handelsgeschäfte betrieben, trotz aller miterlebten Schreckenstage und Katastrophen solch einen empörenden Geiz zur Schau getragen? Ein Wucherer, welcher ihm geschenktes Gut um teueres Geld verkaufte, aller Scham bar, welcher sich erkühnte, erfrechte, mit dem Leben seiner Nächsten schnöden Handel zu treiben.
Der Kawdjer behielt seine Empfindungen und sein Urteil für sich. Es war besser, die gemeine Gesinnung der Schuldigen totzuschweigen und unbestraft zu lassen, als durch Veröffentlichung des Vorgefallenen Unfrieden zu säen.
Er begnügte sich damit, Blaker einen neuen Vorrat verabfolgen zu lassen und ihm zu versichern, daß er in Zukunft so viel bekommen sollte, als er brauchen werde.
Aber der Name »Patterson« blieb seinem Gedächtnis eingeprägt und der Mensch, welcher diesen Namen trug, blieb für ihn das Prototyp der Verabscheuungswürdigkeit und seelischen Schlechtigkeit. Er verwunderte sich auch nicht mehr, als Halg drei Tage später denselben Namen in Verbindung mit einer ähnlichen, ebenso abscheuerregenden Geschichte nannte.
Der junge Mann kehrte von seinem täglichen Besuch bei Graziella zurück. Als er den Kawdjer bemerkte, eilte er auf ihn zu.
»Ich weiß jetzt, sagte er ganz atemlos, wer Ceroni mit Alkohol versorgt.
– Endlich! sagte der Kawdjer sehr befriedigt. Nun, und wer ist es?
– Patterson.
– Patterson!…
– Ja, er ist es bestimmt. Ich habe vor wenigen Augenblicken selbst gesehen, wie er ihm Rum brachte. Jetzt verstehe ich, warum die beiden so gute Freunde sind.
– Irrst du dich gewiß nicht? fragte der Kawdjer.
– Nein, ich bin meiner Sache sicher. Sehr merkwürdig finde ich, daß Patterson den Alkohol nicht herschenkt, sondern ihn um teueres Geld verkauft. Ich hörte den Streit mit an. Ceroni beklagte sich, daß alle seine Ersparnisse in Pattersons Taschen gewandert wären und er gar nichts mehr besäße. Der andere blieb die Antwort schuldig, schien aber nicht geneigt, die Lieferungen, da sie jetzt gratis geschehen müßten, fortzusetzen.«
Halg schwieg eine Weile, dann rief er zornig:
»Wenn Ceroni kein Geld mehr hat, ist er zu allem fähig. Was soll aus seiner Frau und Tochter werden?
– Es wird schon Rat geschafft werden, suchte ihn der Kawdjer zu beruhigen, und nach kurzer Pause sagte er im Tone freundlichen Vorwurfes: Da wir nun einmal bei diesem Thema angelangt sind, bleiben wir dabei. Wenn ich auch nie darüber mit dir gesprochen habe, so sind mir deine Zukunftsträume nicht unbekannt. Wohin sollen sie dich führen, mein Junge?«
Halg schlug die Augen zu Boden und schwieg.
Der Kawdjer fuhr fort:
»In kurzer Zeit, vielleicht schon in einem Monat, werden all diese fremden Menschen für immer aus unserem Leben verschwinden, Graziella so gut wie die anderen.
– Warum kann sie nicht bei uns bleiben? warf der junge Indianer ein und sah zum Kawdjer empor.
– Und ihre Mutter?
– Ihre Mutter wird natürlich auch hier bleiben.
– Glaubst du, daß sie einwilligen wird, ihren Mann zu verlassen,« sagte der Kawdjer.
Halg
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