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Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Die Schiffbrüchigen des »Jonathan«

Titel: Die Schiffbrüchigen des »Jonathan« Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Befürchtungen des Kawdjer hatten ihre Berechtigung. Man mußte mit Blindheit geschlagen sein, um nicht zu bemerken, wie der schrecklichste Feind, der Hunger, die entstehende Kolonie bedrohte. Was ging im Inneren der Insel vor? Man wußte es nicht; nach der allergünstigsten Annahme konnte erst im folgenden Sommer die Ernte so viel abwerfen, daß ein Teil davon den Küstenbewohnern zugute kommen konnte. Da hieß es noch ein volles Jahr warten – und man hatte nur noch Lebensmittel für zwei Monate!
    Am linken Flußufer standen die Sachen weniger ungünstig. Man hatte sich hier von allem Anfang an nach dem Beispiel des Kawdjer alles besser eingeteilt, man sparte mit den Nahrungsmitteln und trachtete durch Gemüsebau und Fischfang Vorräte zu schaffen. Im Gegensatz zu diesen wenigen waren die sechzig Bewohner des rechten Ufers von einer strafbaren Gleichgültigkeit. Was war das mutmaßliche Schicksal dieser Unglücklichen? Würde es – dreihundert Jahre später – zu einer abermaligen Tragödie von Port-Famine kommen?
    Man mußte es mit allem Rechte befürchten und alle Anzeichen wiesen auf solch ein entsetzliches Ende hin, als ein unvorhergesehener Glücksfall die leichtsinnigen Kolonisten dieser Sorgen enthob.
    Chile hatte sein Versprechen, der jungen Republik zu Hilfe zu kommen, nicht vergessen. Gegen die Mitte des Monates Februar legte sich ein Schiff, das die chilenische Flagge trug, vor der Insel Hoste vor Anker. Dieses Schiff, »Ribardo«, ein Segellastschiff, stand unter dem Kommando des Kapitäns José Fuentes und versorgte die Emigranten mit frischen Lebensmitteln, Samen, Haustieren und Ackergeräten; es war eine sehr wertvolle Ladung und mußte den Kolonisten zum Erfolg verhelfen, wenn weise damit verfahren wurde.
    Kaum hatte der Anker Grund gefaßt, so ließ sich Kommandant Fuentes ans Land rudern, um mit dem Gouverneur der Insel zu verhandeln. Ferdinand Beauval hatte sich ihm in dieser Eigenschaft vorgestellt – und eigentlich mit Recht, denn er allein erhob Anspruch auf diesen Titel – und die Ausschiffung der Ladung wurde sogleich in Angriff genommen.
    Während dieser Arbeit brachte Kapitän Fuentes eine andere Angelegenheit zur Sprache, mit der er betraut war.
    »Herr Gouverneur, sagte er zu Beauval, meine Regierung hat in Erfahrung gebracht, daß ein unter dem Namen »Kawdjer« bekannter Mann auf der Insel Hoste lebt. Verhält es sich so?«
    Beauval bejahte die Frage und der Kommandant fuhr fort:
    »Also beruhen unsere Erkundigungen auf Wahrheit. Durste ich Sie um nähere Aufklärung über diesen Mann bitten?
    – Er ist ein Revolutionär, sagte Beauval mit ihm selbst unbewußter Offenherzigkeit.
    – Ein Revolutionär! Wie verstehen Sie das, Herr Gouverneur?
    – Für mich wie für jedermann, erwiderte Beauval, ist ein Revolutionär jeder Mensch, welcher sich gegen die Gesetze auflehnt und der rechtmäßig eingesetzten Autorität den Gehorsam verweigert.
    – Hat Ihnen der Kawdjer Schwierigkeiten bereitet?
    – Er macht mir sehr viel zu schaffen, sagte Beauval mit wichtiger Miene; er ist, was man einen Starrkopf nennt… Aber ich werde ihn schon zähmen!« beteuerte er energisch.
    Der Kapitän des chilenischen Schiffes schien sehr interessiert. Nach einer kurzen Pause schweigenden Überlegens fragte er:
    »Könnte ich vielleicht diesen Kawdjer sehen, welcher die Aufmerksamkeit meiner Regierung schon so oft auf sich gelenkt hat?
    – Nichts ist leichter, entgegnete Beauval… Übrigens, sehen Sie dorthin… er kommt gerade auf uns zu!«
    Mit diesen Worten bezeichnete Beauval mit der Hand den Kawdjer, welcher soeben die über den Fluß führende Brücke betreten hatte. Der Kommandant ging ihm entgegen.
    »Auf ein Wort, mein Herr, bitte,« sagte er höflich und legte die Hand an die mit Goldschnüren verzierte Mütze.
    Der Kawdjer blieb stehen.
    »Ich bin bereit,« sagte er im reinsten Portugiesisch.
    Aber der Kapitän sprach nicht gleich. Mit starren Blicken sah er den Kawdjer offenen Mundes in maßlosem Staunen, das er gar nicht zu verbergen suchte, an.
    »Nun? sagte dieser ungeduldig.
    – Entschuldigen Sie, mein Herr, nahm endlich Fuentes das Wort. Als ich Sie vorhin zum ersten Mal erblickte, glaubte ich einen alten Bekannten wiederzusehen. Sind wir uns nicht schon einmal irgendwo begegnet?
    – Ich glaube kaum, sagte der Kawdjer, um dessen Lippen sich ein ironischer Zug vertiefte.
    – Und dennoch scheint mir…«
    Der Kommandant unterbrach sich mitten in der Rede und schlug sich auf die

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