Die schlafende Stadt
sei er seine eigenen Beine nicht gewöhnt, trat er ein paar Schritte vor und sah sich um. Irgendjemand atmete. Darius hörte es deutlich. Das Haus, bei dem er gerade gestanden hatte, hatte sich nun nicht mehr verändert. Die Fenster glotzten blind und teilnahmslos. Und doch schienen die Häuser leicht zu schwanken, gleich Wasserpflanzen in der Bewegung der See.
Der steinerne Wächter drehte den Kopf und sah zu ihm herüber. Seine stieren Augen hefteten sich auf Darius. Ein wollüstiges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er Darius erkannte.
Darius rannte. Er eilte durch unbekannte Straßen und Gassen. Er wusste nicht, ob er sie wirklich nicht kannte oder ob sie sich nur verändert hatten, wie der Platz mit dem Brunnen und dem steinernen Wächter. Er hatte sich längst verlaufen, hastete wahllos weiter, ohne anzuhalten. Schließlich fand er sich wieder auf einer ihm bekannten Straße. Die engstehenden Häuser waren zurückgewichen, endlich schien er wieder mehr Luft zu bekommen. Von der Kuppe einer Brücke konnte er jetzt wieder seinen heimatlichen Stadtteil erkennen, weit entfernt, erschreckend weit. Noch nie hatte er sich derartig entfernt. Er verlangsamte seine Schritte, schwankte aufgrund der ungewohnten Anstrengung.
Widerstrebend schaute er zurück. Unmittelbar hinter den geduckten Häusern, denen er gerade entflohen war, erhob sich ein ungeheurer durchbrochener Kirchturm, den er ebenfalls nicht erinnern konnte, jemals zuvor gesehen zu haben, so als sei er erst in den letzten Minuten aus der Erde gewachsen. Der granitene Zwerg, der am Parkeingang kauerte, grinste ihn aus seinem verwitterten, aussätzigen Gesicht an.
Der Albtraum klebte noch an seinem Hirn, obwohl sein Verstand bereits wusste, dass er vorbei war. Er zwang sich, auf den Zwerg zuzugehen. Der schwarze, geäderte Marmor war kalt und starr. Einige Stellen waren rau und gesprungen, ein Ohr fehlte, und das linke Auge war zur Hälfte weggebrochen.
Stein, nichts weiter.
Eine gewisse Ruhe war nun plötzlich eingekehrt, und mit ihr wieder das dumpfe Etwas, das seinen Geist umfing wie schwere, nasse Schwingen eines Tieres, das den Mond verdunkelt. Darius wankte vorwärts. Er spürte etwas Ungewohntes, eine würgende, ekelhafte Übelkeit, die von seinem Innersten bis in seine Kehle aufstieg, seine ganzen Nasenhöhlen erfüllte, so als müsse er augenblicklich etwas Widerwärtiges loswerden, das aber zu groß war, um es zu erbrechen. Mühsam setzte er Schritt vor Schritt. Er riss an seinem Halstuch. Weiter, nur weiter. Die vertraute Umgebung mit dem heimatlichen Observatorium blieb in gnadenloser Ferne, so weit er auch ging.
Eine Gestalt in schwarzer Kutte lehnte reglos im Schatten an einer Mauer und starrte ihn an. Darius versuchte, entschlossen voranzuschreiten. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen, das unter der Kapuze verborgen war, doch meinte er, ihren lauernden Blick zu spüren. Flüchtig erkannte er den nietenbesetzten Knüppel in ihrem Gürtel. Nie zuvor hatte Darius früher jene Gestalten bemerkt, die kürzlich im Tempel aufgetaucht waren. Ein Zufall? Er würde Beda fragen. Beda ...
Darius wankte weiter. In monoton wiederholter Anstrengung setzte er Fuß vor Fuß, um gelegentlich aufzublicken, ob sich der Abstand zum Observatorium verringert hätte. Zeitweise vergaß er sämtliche Empfindungen. Durch seine trübe Wahrnehmung drang nur hindurch, dass er sich fortbewegte. Eine Ahnung von Stufen, die er hinabstieg, dann vermeinte er, eine Brücke zu überqueren. Sein Körper schwebte, kroch, wehte, alles zur gleichen Zeit, nur dass es nicht mehr wichtig war, wie. Bevor er in vollkommener Schwärze versank, vermeinte er noch die Treppen des Klosters vor sich zu sehen.
In der Kunst bedeutet Lebendigmachen alles.
LI Tai Po
M arek Grabiansky war nicht nur eine gewichtige, sondern auch anderweitig auffällige Erscheinung. Er sah aus wie ein riesiges, ungemachtes Bett mit übermäßig gestopften Federkissen, die jeden Moment aufzuplatzen drohten. Neben seinem gewaltigen Bauch verfügte er noch über einen eindrucksvollen, schwarz-grau melierten Rauschebart, sowie über lange, borstige Haare der gleichen Färbung, die lediglich im Stirnbereich etwas ausgedünnt waren und ihm ansonsten bis auf den Rücken hinunter fielen. Seine dicke Nase war der unangefochtene Mittelpunkt seines Gesichtes, und die ungezählten Flaschen Rotwein seines fünfundfünfzigjährigen Lebens hatten großformatige Poren gegraben und violette Adernornamente
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