Die schlafende Stadt
hinterlassen. Der gleiche Saft hatte aber keinerlei nachteiligen Einfluss auf seine zwar kleinen, dunkelbraunen, aber ungemein wach und listig unter den buschigen Brauen funkelnden Äuglein gehabt, mit denen er die Welt derart aufmerksam zu betrachten pflegte, dass keine Ameise auf einem üppig gemusterten Teppich sich hätte vor ihm sicher fühlen können.
Marek dozierte. Heute ging es um die zeichnerische Umsetzung von Materialqualitäten, um Raues und Glattes, Weiches und Hartes, Stumpfes und Schimmerndes. Selbst seine normale Sprechstimme hatte ein Volumen, das einen Wagner’schen Bass hätte neidisch machen können. Vor ihm saßen seine Abendschüler, wie üblich fast ausschließlich Frauen fortgeschrittenen Alters, die in dem späten Abschnitt ihres Lebens noch etwas Sinnvolles unterbringen wollten. Marek war Künstler mit Leib und Seele. Schon immer hatte es ihm geradezu rauschhafte Freude bereitet, das, was seine Augen sahen, zu Papier zu bringen – und mehr noch. Er hatte gelernt, zu sehen. In seinen Zeichnungen konnte jeder nicht nur das sehen, was man normalerweise sehen konnte. Das wäre Marek viel zu wenig gewesen. Nein, es musste alles erfasst sein, wie jeder Gegenstand von jeder Seite aussehe, jedes Gesicht, jede Landschaft, jedes Gebäude. Unvollkommenes gab er nicht aus der Hand. Und jedes Bild musste darüber hinaus etwas enthalten, was nur er, Marek, wahrnehmen konnte, und welches er dem bis dahin unwissenden Betrachter damit schenkte. Denn neben seiner Kompromisslosigkeit war er durchaus großzügig. Eben so verfuhr er auch mit den Dingen, die er für nebensächlich hielt. Ordentlichkeit außerhalb seiner Kunst hielt nur auf und lenkte vom Wesentlichen ab. Der Kontakt eines Kammes mit seinen Haaren musste jedenfalls bereits verjährt sein, und seine fleckige Kordhose erzählte von sämtlichen Substanzen, mit denen sie in den letzten zehn Jahren in Berührung gekommen war. Fast jeder der Knöpfe, die mühsam sein kariertes Holzfällerhemd über dem prallen Leib zusammenhielten, war mit einem andersfarbigen Garn angenäht. Dies kümmerte ihn nicht, denn genauso, wie der heimische Garten und der Anbau des Biogemüses seine Domäne war, oblag dies der Verantwortung seiner Frau, deren Werk auch die überdimensionale, graue Strickjacke war, die hinten bis weit über sein gigantisches Hinterteil hinabhing, und die erst von letztem Weihnachten stammte. Ansonsten war Isolde alles andere als ein Heimchen am Herd. Sie war ungemein praktisch veranlagt, und hatte eine Energie, über die sich selbst Marek immer wieder wunderte. Das gemeinsame Atelier, das er mit seinen Bildern, sie mit ihrer Töpferware bestückten, lief nicht schlecht, aber auch nicht gut. Jedenfalls war es zu wenig zum Leben. Marek hatte mühsam gelernt, sich in Realitäten zu schicken. Er malte Illustrationen nach Auftrag, obwohl er jede Art Vorgabe verabscheute, übernahm wie auch Isolde Lehraufträge, um mit zunehmender Unlust immer wieder viel Elan in nicht vorhandene Fortschritte seiner Schüler zu investieren. Nein, deshalb war er kein Künstler geworden, weiß Gott nicht. Aber es brachte einen guten Ruf und entsprechend zusätzlichen Verdienst, so dass er sich schließlich in der Lage sah, mit Frau und sechs Kindern einen uralten Bauernhof zu erstehen, den er in mühevoller, aber genussvoller Kleinarbeit, nach allen Regeln der ökologischen Kunst, zu einem gemütlichen Heim hergerichtet hatte.
Mareks Großzügigkeit wurde an diesen Abenden jedoch stets auf eine harte Probe gestellt. Die Ansammlung von zuverlässig Mindertalentierten war alles andere als das Klientel, mit dem er sich je gewünscht hatte zu tun zu haben. Es war nicht einmal die Übergewichtigkeit der Damen, die sich heute an Bleistiftzeichnungen von Stoffen, Hölzern und diversen Obstsorten versuchten, sondern die schauerlichen Kurzhaarfrisuren, die für ihn so unweiblich und reizlos waren wie eine alte Kokosmatte. Es wirkte auf ihn, als wäre beim entsprechenden Frisörbesuch gleich jede Andeutung von erotischer Lust gleich mit abgeschnitten worden. Wenn er daran dachte, wie lustvoll er sich nach wie vor in Isoldes lange, wenn auch inzwischen ergraute Haare hineinzuwühlen pflegte, konnte er sich bereits vorstellen, wie es um das Liebesleben vieler seiner Mitmenschen bestellt war.
Als wäre es ab einem bestimmten Alter aus und vorbei!
Er mochte außerdem wetten, dass die meisten höchstens ein, zwei Kinder hatten, wenn überhaupt. Hach, wie sollte das mit unserem
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