Die schlafende Stadt
Staat weitergehen, wenn die Leute sich von solch essentiellen Dingen entfernten. Stolz dachte er an seine sechs Kinder. Was soll’s, Hauptsache, er machte es richtig. Und die über dreißig Jahre Ehe sollte man ihm auch erst einmal nachmachen.
Marek ging durch die Reihen und begutachtete die Werke seiner Schützlinge. Der Abendkurs war gut besucht. Ruhm zahlte sich halt doch aus. Sogar einige Männer hatten sich diesmal hierhin verirrt. Konstantinos, der Grieche, der sich heute natürlich eine große Muschel ausgesucht hatte. Ganz in Ordnung, der Mann. Alles, was er malte, musste mit seiner Heimat zu tun haben. Na, warum nicht. Würde er auch so machen. Und dann gab es noch Robin, diesen eitlen, stupsnasigen Athleten mit der Elvis-Presley-Frisur und der Sonnenstudiobräune und dem Charme einer Barbie-Puppe, dessen Talent zum Zeichnen Marek bisher völlig verborgen blieben war. Die Zeit, die der vermutlich vor dem Spiegel verbrachte, konnten seine plebejische Ausstrahlung nicht verhindern; mit seinen großen, ungelenken Händen wirkte er wie ein Elefant, der versuchte, eine Taschenuhr zu reparieren. Was zum Teufel, verschwendete der Zeit und Geld für einen solchen Kurs? Anstreicher, das wäre etwas für den, aber Künstler?
Marek schritt auf die erste Kursteilnehmerin zu. Er schloss vorsorglich seinen Kiefer zu einem unzertrennlichen Block und riskierte einen ersten Blick. Dabei setzte er sein gütiges Lächeln auf, weil sonst sein resigniertes Stöhnen die konzentrierte Stille gestört hätte. Die Grundform eines Apfel ist eine Kugel. Ursula, die alleinstehende Grundschullehrerin mit den rotgefärbten Haaren, hatte sich offenbar noch nie in ihrem Leben Gedanken über diese einfache Tatsache gemacht, und Mareks detaillierte Ausführungen darüber hatten keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Das unförmige Gebilde, das auf dem Papier zu sehen war, erinnerte zwar entfernt an einen Kreis, und immerhin hatte sie die faulige Stelle des Originals, das unmittelbar vor ihr postiert war, fast richtig wiedergegeben, zumindest was den Ort betrifft. ‚Das ist wohl eher ein Scheißhaufen als ein Apfel’ wollte er am liebsten sagen, aber ihr scheues, erwartungsvolles Lächeln ließen seine Lippen stattdessen ein kleines Lob sprechen, um dann eine sanfte Kritik und Verbesserungsvorschläge hinterher zu schieben. „Schön, hier kann man bereits sehen, dass du den Apfel schon genau erfasst hast“, schloss er milde. Er verschönerte Ursulas Blatt noch innerhalb von zwanzig Sekunden mit einer perfekten Skizze des Apfels, hinterließ noch ein paar charmante Ermutigungen und flüchtete zur nächsten Kandidatin. Frau Wiegand, die knochige Apothekerin, hatte den bronzenen Kerzenleuchter, den Marek ihr hingestellt hatte, zeichnerisch zu etwas umgestaltet, das an einen halbvermoderten Rettich erinnerte. Immerhin, die Proportionen stimmten einigermaßen, und er konnte ein paar anerkennende Bemerkungen platzieren. Marek arbeitete sich Pult um Pult voran. Das eigentliche Objekt seines Interesses war nur noch drei Sitze entfernt. Denn dort saß das entzückendste Geschöpf, das ihm seit langer Zeit unter die Augen gekommen war.
Leni. Helena. Die Schöne. Wahrhaftig, der Name passte zu ihr. Sie gehörte zu jenen göttlichen Wesen, die Marek zeigten, dass selbst die unliebsamsten Pflichten wie diese unsäglichen Abendkurse ihre Glanzpunkte haben konnten. Marek wollte seinen Blick nur ungern von dem Mädchen abwenden, denn nichts war auch nur andeutungsweise so interessant an diesem Abend wie sie. Geistesabwesend starrte er daher auf Robins Blatt, bei dem er gerade angelangt war, und dessen süßliches Rasierwasser-Aroma ihm einen leichten Anflug von Übelkeit beibrachte. Marek versuchte herauszufinden, was das Gekritzel, das dessen riesige Hände angerichtet hatten, darstellen mochte. Er stöhnte innerlich. Seines Wissens gab es kein lebendes oder totes Objekt, was dem ähnlich sein könnte. Ohne zu einem Ergebnis zu gelangen, brummte er etwas ebenso Undefinierbares und kämpfte sich weiter.
Leni war nicht nur schön. Sie war auch ungemein begabt. Ein solches Talent gehörte auf die Akademie. Wie konnte es sein, dass ihre Eltern sie bisher nicht gefördert hatten, dass sie sich in Abendkursen fortbilden musste? Na, wenigstens war sie bei einer Ausnahmeerscheinung wie ihm gelandet. Für Menschen wie sie war es nie zu spät, und er, Marek, würde sie fördern. Marek bemerkte ein eigenartiges Kribbeln in seinem Bauch, das er nur kannte, wenn
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