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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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ihm etwas besondere Freude bereitete. Nein, der alte Esel würde sich nicht verlieben. Etwas Besseres als Isolde und die Kinder könnte es ohnehin nicht für ihn geben. Aber seinen Sinn für Schönheit durfte man ja wohl noch pflegen.
    Leni mochte Anfang zwanzig sein. Sie war schlank und hatte schulterlange, dunkelbraune, fast schwarze Haare. Ihre vollen, geschwungenen Lippen und die eher lange, gerade Nase verliehen ihrem Gesicht etwas Vornehmes, Edles, aber ihre mädchenhafte Erscheinung und ihre strahlenden, grünen Augen verhinderten jede Distanz, die allzu große aristokratische Strenge sonst hervorbringt. Leni hatte ein Gesicht, das immer lächelte; nicht gezwungen etwa, nein, es war einfach in ihr drin. Vielleicht war es diese ganz tiefe Traurigkeit dahinter, die diesem Lächeln diesen unwiderstehlichen Charme verlieh, so wie ein Stern in dunkler Nacht.
    ‚Ein Engel’, dachte Marek, ‚und sie weiß es nicht.’
    Sie trug außer einem kleinen Silberamulett um den Hals keinerlei Schmuck, und sie war nicht geschminkt. Die vielen Jahre des Sehens und Arbeitens hatten Mareks Blick auch für solche Details geschult. Es war aber ihre ganze Art, die spürbar machte, dass sie es nicht gewohnt war, dass man ihr überhaupt Aufmerksamkeit schenkte, geschweige denn dass man sie lobte. Hier saß eine junge Frau, die weder wusste, was sie eigentlich kann, der womöglich nicht einmal klar war, welch begehrliche Blicke wohl täglich auf ihr ruhen mochten, wie etwa der von dem schmierigen Robin, was vielleicht der eigentliche Grund für dessen Anwesenheit hier war, wie Marek jetzt missbilligend in den Sinn kam. Ekliger Typ, dieser Robin. Allein schon dieser Name. Seine Eltern hatten wohl zuviel Abenteuerheftchen gelesen. Seine wässrigblauen Augen und dieses puppenhafte Stupsnäschen wären noch nicht so schlimm gewesen. Aber dieses eitle, narzisstische Äußere wie diese immer pomadisierten Haare, die modischen Jacketts oder die knallroten Lackschuhe, die Robin immer trug, waren Marek gleich auf die Nerven gegangen. Viel schlimmer noch aber waren diese vielen Fremdwörter, die er benutzte, ohne deren Bedeutung offenbar jemals richtig kennengelernt zu haben bei den zahllosen Fragen, die er Marek jedes Mal stellte. Das wirkte lächerlich und aufdringlich zugleich. Jedes mal nach Ende des Kurses pflegte er Marek noch persönlich heimzusuchen und mit pseudogelehrten Diskursen wie den Alten Meistern oder speziellen Maltechniken, die er auch in den nächsten zehn Reinkarnationen noch nicht würde fähig sein anzuwenden, zu quälen. Vielleicht war es auch seine gequetschte, hohe Stimme. Aber da war noch etwas anderes, was den Jungen von Anfang an unsympathisch erscheinen ließ. Marek hatte eine äußerst bildhafte Phantasie, und der Gedanke an den Austausch von Zungenküssen und womöglich noch mehr zwischen Robin und Leni, diesem wundervollen Wesen, verursachte ihm einen kurzen Nackenkrampf. Alle väterliche Wachsamkeit versammelte sich auf einen Schlag in seiner innersten Mitte. Marek fuhr herum bohrte seinen kritischen Blick auf den unliebsamen Popanz, der aber sehr konzentriert seinen Zeichenblock durchpflügte. Der sollte sich nur keine Schwachheiten einbilden! Vielleicht sollte er Robin einfach die Aussichtslosigkeit seines Verbleibes in diesem Kurs mitteilen. Marek schüttelte die Vorstellung ab und konzentrierte sich auf Lenis Zeichnung. Gleich ging es ihm besser.
    Sie war so konzentriert, dass sie ihn zunächst gar nicht bemerkte. Marek hatte ihr das schwierigste Objekt aus seiner Sammlung alten Plunders gegeben, das er für diesen Abend mitgebracht hatte. Es handelte sich um ein altes, verrostetes, gusseisernes Bügeleisen, eines jener Exemplare, in das man früher hatte glühende Kohlen einfüllen müssen. Geradezu zärtlich ruhte Mareks Blick auf ihrer schlanken, geschickten Hand. Viel besser hätte er es auch nicht gekonnt. Obwohl Leni nur einen Bleistift benutzt hatte, wurde unmittelbar klar: das alte Bügeleisen auf dem Papier dort war, alt und verrostet. Man vermeinte förmlich, den Rost rieseln zu sehen, die Gelenke quietschen, den speckigen Holzgriff kleben zu fühlen.
    „Ausgezeichnet!“ sagte er. „Großartig.“
    Leni sah weiterhin angestrengt auf ihr Bild. Das Lob beschämte sie. Für sie war es bereits etwas ganz Besonderes, ja geradezu Abtrünniges, überhaupt einen solchen Kurs zu besuchen, etwas zu tun, was ganz allein ihr gehörte. Es war in ihrem bisherigen Leben nicht üblich gewesen, dass etwas,

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