Die schlafende Stadt
sich um.
„Du bist ein guter Mensch“, sagte er. „Du willst mich einfach nicht fallenlassen, nicht wahr? Aber es nützt keinem etwas, sich Dinge schönzureden. So, wie du es beschreibst, werden es andere nicht sehen. Ich kann es ihnen noch nicht einmal übelnehmen.“
„Harald!“ rief Dankwart jetzt vehement. „Du warst es doch selbst, der den Wandel wollte! Du selbst hast mich doch dazu angeregt, aufzuwachen!“
„Das weißt du. Niemand sonst.“
„Bald werden es alle wissen.“
„Und wer wird es glauben?“
Er schüttelte den Kopf.
„Ich danke dir für deine Freundschaft. Aber verstehst du denn nicht? Ich will überhaupt nicht mitkommen, denn ich würde es nicht ertragen. Ich kann nicht zwischen euch allen herumlaufen und vorgeben, es sei nichts gewesen! Das ist unmöglich!“
Er packte Dankwart bei den Schultern.
„Ich würde ja so gerne! Aber es ist ein schöner Traum, nichts weiter. Ich werde meine Schuld niemals loswerden. Das ist uns so vorgegeben, wir können es uns nicht aussuchen. Und trotzdem ist es gut so, wie es nun ist. Es ist wunderbar. Genauso habe ich es mir gewünscht. Und dass die dunkle Zeit nun vorbei ist, ist mehr, als ich je erhoffen konnte. Du siehst ...“
Er trat in einen hellen Sonnenstrahl, schloss die Augen und breitete die Arme aus.
„... auch ich bin beschenkt. Immerhin habe ich die Sonne wieder.“
Dankwart blickte jetzt hilflos.
„Was wirst du tun?“ fragte er.
„Ich werde hier bleiben.
Ich werde auf das Meer blicken, das Sonnenlicht genießen, die frische Luft atmen. Ich werde jeden Schmetterling begrüßen, der zu mir geflogen kommt, jede Blume hegen, die in meiner Nähe blüht.
Ich werde vielleicht manchmal reisen. Zu einigen Menschen, die es verdienen.“
Mit diesen Worten huschte ein diabolisches Grinsen über sein Gesicht. Etwas Kaltes, Stählernes blitzte auf in seinen Augen. Diesen kurzen Augenblick sah er aus wie ein böser Dämon, der hämischen Genuss an seinem verderblichen Tun empfindet. Es dauerte nicht länger als ein Wimpernschlag.
„Ich werde auch wandern“, fuhr er jetzt fort, „von hier ins Hinterland, auf die schneebedeckten Gipfel des Ulthar-Gebirges, die man schon früher in klaren Nächten manchmal sehen konnte. Ich freue mich darauf, es endlich bei Licht zu sehen.“
Jetzt lächelte er wieder milde und melancholisch.
„Ich möchte mich mit meinem Cello in andere Welten träumen, in denen meine Schuld keine Rolle spielt. Und ich werde mich freuen, ab und zu mit dir Musik zu machen, wenn du möchtest.
Mehr brauche ich nicht.“
Das laute, dümmliche Kreischen der Magd,
der Chor bestürzter Ausrufe aus
den Wirtschaftsräumen,
die hastigen Schritte und die fieberhaften
Bemühungen, Hilfe herbeizuschaffen,
und dann, nach einer kurzen Stille,
das verängstigte Schluchzen
und die schleppenden Schritte derer,
die eine schwere Last ins Haus trugen.
SAKI, Sredni Vashtar
A n diesem Morgen fiel der erste Schnee. Leni spürte ihn durch die geschlossenen Vorhänge, noch bevor sie richtig wach war.
Das Telefon läutete. Berthold neben ihr zuckte zusammen. Schlaftrunken richtete er sich auf. Er warf einen kurzen Blick auf den Wecker: Sieben Uhr. Dann erinnerte er sich, dass heute Samstag war.
„Welcher Schwachkopf ruft ausgerechnet am Wochenende um diese Zeit an?“ fluchte er.
Da das Klingeln nicht enden wollte, schälte er sich aus dem Bett. Jetzt wurde er unruhig. Ob jemandem etwas passiert war?
Leni beschlich ein ängstliches Gefühl. Etwas Bedrohliches stand bevor. Es schlich bereits durch die Räume auf sie zu und packte ihr direkt ans Herz. Ihre Hände klammerten sich angespannt in ihre Bettdecke.
Sie hörte, wie Berthold den Hörer abnahm.
„Berthold Brückner.“
Dann stöhnte er ungehalten.
„Oh Mann! Spinnst du eigentlich ...“
Leni wusste sofort, wer es war.
Sie fühlte augenblicklich einen eiskalten Windhauch durch das Zimmer wehen. Ihr Körper krampfte sich angstvoll zusammen.
„Aber hör mal! Das kannst du dir doch nur eingebildet haben ...!“
Offenbar redete der Anrufer unentwegt. Berthold kam nicht zu Wort, er stand nur stirnrunzelnd da und hörte zu.
Leni hörte deutlich den Klang der Stimme. Sie verstand nicht seine Worte, doch alle Erinnerungen waren schlagartig da. Die hohe, gequetschte Stimme, der anzügliche, schmierige Unterton, die rohe Geilheit ... die gierige, nasse Zunge, der fremdartige, unangenehme Atem, die verzerrte Oberlippe.
Der Faustschlag in ihr Gesicht.
„Das hört sich
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