Die schlafende Stadt
sagen, wovor Sie geschützt werden müssen?“
Der Patient stieß einen verächtlichen Ton aus und rollte die Augen zur Decke.
„Vor einer ganzen Menge von Leuten, würde ich mal sagen.“
„Wissen Sie vor wem?“
„Und ob ich das weiß.“
Er sah sie abschätzend an.
„Nun ... wie ich Sie einschätze, sind Sie intelligent genug, um zu verstehen, was ich zu berichten habe. Es ist eine Gruppe von Leuten, die sich heimlich abgesprochen haben, mich in den Wahnsinn zu treiben. Anführer ist mein Stationspfleger, im Auftrag meines eigenen Vaters.“
„Warum sollten die das tun?“
„Schauen Sie“, sagte er in mitleidigem Ton, der so klang, als wolle er einer Schülerin Unterricht geben, „mein Vater hasst und verachtet mich. Er wollte mich schon immer vernichten. Denn er ist eigentlich ein kleines, mickriges Licht, ein ungebildeter, grober Klotz, ein neureicher Emporkömmling, der nicht damit fertig wird, dass sein Sohn ihn geistig überflügelt.“
„Aber er ist doch ein erfolgreicher Mann. Laut Polizeiakte wird sogar gegen ihn ermittelt, weil er die Zeugin einzuschüchtern wollte.“
„Daran sieht man, wie dumm er ist! Aber letztendlich will mein Vater nur sich selbst schützen.“
„Nun gut. Was ist mit dem Stationspfleger?“
„Er ist genauso. Er kann es nicht ertragen, dass ich ihm überlegen bin.“
„Inwiefern sind Sie das?“
„Ich werde bald Arzt sein. Er dagegen bleibt ein Leben lang Krankenpfleger. Das ist hart für ihn. Daher hat er schon immer versucht, mich zu deckeln. Er gefiel sich stets in der Rolle des Blockwarts und hat es genossen, seine jämmerliche Macht mir gegenüber auszuspielen. Ein typischer NPD-Wähler.“
„Soweit ich weiß, sind Sie aber noch kein Arzt. Sie haben noch nicht einmal einen Studienplatz.“
Sie wollte sich diese Bemerkung einfach nicht verkneifen, obwohl sie wusste, dass dies das Gespräch vielleicht vorzeitig beenden könnte. Sie spürte aber, dass sie nicht die geringste Lust hatte, diesem arroganten Riesenbaby Honig ums Maul zu schmieren, zumal er vermutlich einen Mord begangen hatte und einen zweiten um ein Haar auch noch. Die Diagnose „narzisstische Persönlichkeit“, hatte sie bereits notiert. Ein falsches Wort also, und der Patient würde sie womöglich auf ewig ablehnen.
Der Patient fixierte sie auch tatsächlich mit zusammengekniffenen Augen. Dann lehnte er sich selbstgefällig zurück, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und lächelte überlegen.
„Sie können mich gerne auf die Probe stellen, Frau Kollegin“, sagte er und kicherte. „Sie werden ja sehen, über welch ein immenses Wissen ich verfüge.“
„Davon bin ich überzeugt.“
„Ich werde Ihnen etwas erklären müssen“, sagte der Patient wichtig. „Ich denke, dass Sie als erfahrene Ärztin vielleicht offen sind für Hintergründe dieser Art: Ich gehörte schon immer zu den Verfolgten. Es ist geradezu ein Teil meiner Identität.“
Er lehnte sich vor und flüsterte: „Wussten Sie, dass der Name Frauendorff ein alter jüdischer Name ist?“
„Nein, das wusste ich nicht. Heißt das, Sie sind Jude?“
„Faktisch ist es so.“
Der Patient nickte bedeutungsvoll.
„Was heißt das, ‚faktisch’? Haben Sie jüdische Eltern? Großeltern?“
„Nicht direkt.“
„Und wie kommen Sie dann darauf, Jude zu sein?“
„So etwas fühlt man.“
„Woher genau wissen Sie es?“
„Ich werde es in Kürze eruieren“, antwortete er ausweichend.
„Machen Sie das“, sagte sie abschätzig und machte eine Notiz über Opferwahn.
„Sie glauben mir nicht!“ stellte der Patient jetzt mit einem schneidenden Unterton fest. Seine Oberlippe hatte sich dabei unschön verkrampft.
„Sie haben ja keine Ahnung, was es bedeutet, immer und überall verfolgt zu werden! Und das seit Generationen!“ sagte er dann scharf. Plötzlich wirkte er gefährlich.
„Zurzeit sieht es eher so aus, als bedrohen Sie andere Leute als umgekehrt“, erwiderte Dr. Kutscher trocken.
„Ach!“
Der Patient bemühte sich, seine Augenlider wieder schwer hängen zu lassen, um souverän zu wirken.
„Sie meinen die kleine Krankenschwester und ihren schriftstellernden Schutzengel.“
„Es sieht so aus, als hätten Sie diese ‚kleine Krankenschwester’ fast umgebracht.“
Der Patient lächelte.
„Sie sind so unbedarft! Sie werden noch viel lernen müssen. Dass auch Sie auf so was hereinfallen! Aber das hätte ich mir ja fast denken können.“
Er faltete seine Hände und lehnte sich
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