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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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was sie tat, wichtig oder gar außergewöhnlich sein könnte. Als Marek sich nun zu den anderen Teilnehmern wandte und die Vorzüge ausgerechnet ihrer Zeichnung pries, vermeinte sie vor Scham im Boden versinken zu wollen. Im Mittelpunkt zu stehen machte ihr Angst. Die Freude, ja sogar der leise Stolz, der kurz aufflackerte, wurde sehr schnell von anderen inneren Stimmen übertönt. Die vertrauteste dieser Stimmen war die des Schweigens. Mareks Lob versetzte sie daher in Unruhe, als tue sie etwas Verbotenes. Und doch konnte man gerade bei ihr das dankbarste allen Lächelns hervorrufen. Mit einem leisen Glücksgefühl verstaute sie ihre gelungene Zeichnung in ihrer Mappe.

    Marek hatte den Abendkurs tapfer und souverän hinter sich gebracht, und seine Schützlinge packten dankbar ihre Sachen zusammen. Nun freute er sich auf sein gemütliches Zuhause. Bei der Planung, welche Weinflasche er diesmal köpfen würde, störte ihn wieder die süßliche Parfümwolke mit der vertrauten, gequetschten Stimme.
    „Sagen Sie, Herr Grabiansky, was ich sie schon neulich fragen wollte“, begann Robin, „die Proportionen von Michelangelos David stimmen doch nicht mit der Natur überein, nicht wahr? Wie ist es möglich, dass der David dennoch als zeitloses Meisterwerk gehandelt wird?“
    „Stimmt. Der Kopf ist zu groß“, bestätigte Marek. „Keine Ahnung, warum der David so toll gefunden wird. Vielleicht stand man schon immer auf knackige Ärsche.“
    Damit war für ihn die Unterhaltung beendet. Er hatte nicht die Andeutung einer Lust, Robin zwischen Tür und Angel über das Genie Michelangelos aufzuklären. Robin stutzte kurz, dann lachte er und bemühte sich redlich, Mareks Antwort als gelungenen Scherz zu honorieren.
    Dann kam der nächste Anlauf. „Ich frag’ ja nur wegen der Anatomie – gehört die auch zum Kursprogramm?“ Er machte eine dramatische Kunstpause. „Ich würde gerne selbst mich einmal an Skulpturen und Portraits heranwagen. Das ist ja gewissermaßen die Königsdisziplin, nicht?“
    Marek bemühte sich, nicht nach Luft zu schnappen. Seinen fortschreitenden Ärger über den anbiedernden Emporkömmling hatte er aber nun ganz und gar nicht vor, hinunterzuschlucken.
    „Werter Herr Frauendorff! Um die ‚Königsdisziplin’ beherrschen zu können, sollte man erst einmal die Grundlagen können! Wie wollen sie etwas so Komplexes wie den menschlichen Körper oder ein Gesicht darstellen, wenn Sie, so wie heute, schon mit einem Zierkürbis Schwierigkeiten haben?“
    Robins Lächeln gefror zu einem stereotypen Grinsen. Dies ließ Marek sich auf seine diplomatischen Fähigkeiten besinnen.
    „Verstehen Sie, Herr Frauendorff“, sagte er etwas milder, „es ist ja nicht so, dass ich Ihnen das nicht zutrauen würde (Lüge, aber was soll’s) , aber ich möchte Sie einfach davor bewahren, dort Misserfolge zu haben, wo Sie bei richtig dosiertem Tempo vielleicht viel erfolgreicher wären? Deshalb beginnen wir mit einfachen Körpern und steigern uns dann allmählich.“
    Marek senkte bedeutungsvoll seine Stimme. „Und, gerade Sie wissen das doch am besten (guter Trick) : Der wahre Profi ehrt die kleinen Schritte!“
    Eine längere, unangenehme Pause war die Folge. Das war wohl danebengegangen.
    „Das ist wahr!“ bestätigte Robin dann doch mit wichtiger Miene. „Dann werde ich konsequent daran feilen! Ich sehe das auch so. Wenn Leute Dinge, die sie noch nicht beherrschen, zu früh angehen, werden sie womöglich scheitern. Dies lässt sich durch ein gutes pädagogisches Konzept unter Umständen vermeiden.“
    „Dann sind wir uns ja einig“, stellte Marek erleichtert fest und begab sich in Richtung Ausgang. „Einen schönen Abend noch.“
    Aufatmend registrierte er, dass Robin den Gruß erwiderte und sich ebenfalls daran machte, seine Sachen einzupacken. Marek nickte noch liebevoll seiner Meisterschülerin zu. Sie strahlte zurück. Wundervoll. Das war der perfekte Abschluss. Nun nichts wie weg.

    Mareks Wahrnehmung hatte ihn auch diesmal nicht getäuscht. Robin hatte seit mehreren Abenden begehrliche Blicke auf Leni geworfen. Allerdings tat er ihm in einem Punkt Unrecht. Leni war nicht der einzige und ausschließliche Grund von Robins Anwesenheit. Robin wollte wirklich Künstler werden und hielt sich tatsächlich für so begabt, dass er es bald zu einer Berühmtheit bringen könnte. Die andere Alternative war für ihn, Arzt zu werden. Er gedachte, beides zu vereinigen, als künstlerisch gebildeter Arzt mit besonderer

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