Die schlafende Stadt
gewiss sehr demütigend, oder?“ Dr. Bohlscheidts ohnehin blasses Gesicht nahm dabei einen Schimmer von grau an, und Berthold bekam den bedrückenden Eindruck, an einer sehr schweren Krankheit zu leiden. Ein Gefühl der Bodenlosigkeit und Beklemmung breitete sich aus.
„Haben Sie jemals befürchtet, geisteskrank zu werden?“ fragte Dr. Bohlscheidt abschließend. Als Berthold die Frage bejahte, notierte er minutenlang etwas auf seinen Block. „Ja, ja, das ist ein langer, langer Weg“, stellte er fest, schürzte gedankenverloren die Lippen und blickte seinen Patienten dann mitfühlend aus seinen blassblauen Froschaugen an.
Berthold brauchte fast eine ganze Woche, um sich von der ersten Sitzung zu erholen. Er hatte seitdem fast den ganzen Tag Anflüge von Panik und bemerkte erst nach vier Tagen, dass sich eine gewisse Erleichterung eingestellt hatte. Er schrieb seine Träume auf, wie Dr. Bohlscheidt es ihm aufgetragen hatte und formulierte pflichtgemäß seine Therapieziele.
Zu der nächsten Sitzung kam er zu spät, weil die Straßenbahnlinie ausgefallen war. Abgehetzt durchflüchtete er das kafkaeske Treppenhaus. Dr. Bohlscheidt verbrauchte fast die ganze verbliebene Zeit, um herauszufinden, was ihn wohl dazu bewogen hatte, zu spät zu kommen. Die Straßenbahn schien für ihn als Erklärung nicht zu gelten; stattdessen vermutete er ganz andere Kräfte, die Berthold von der respektvollen Pünktlichkeit abgehalten haben mochten. Wieder verging eine ganze Woche, bis er sich einigermaßen sortiert hatte, denn seine Panik war auch nach dieser Sitzung stark und allgegenwärtig wie nie. Ähnlich verhielt es sich bei den weiteren. Gelegentlich erfüllte ihn nicht nur Angst, sondern auch Ärger, weil Dr. Bohlscheidt ihn immer auf Verfehlungen seiner Eltern hinzuweisen versuchte. Als er begann, wütend zu werden, konnte er ein leises triumphierendes Blitzen in den sonst eher abgeschlafften Augen wahrnehmen. Dr. Bohlscheidt schien dies für den richtigen Weg zu halten. Gut davon ging es Berthold aber trotzdem nicht. Bereits der Gedanke an die nächste Sitzung begann schon, ihn mit düsterster Besorgnis zu erfüllen und mit Gefühlen zu beuteln, die er selbst in akutem Panikzustand für nicht mehr steigerungsfähig gehalten hatte. Sein Großonkel beruhigte ihn am Telefon: Das bedeute alles ja nur, dass Dr. Bohlscheidt bei ihm an entscheidende Punkte rühre. Am Schluss der fünften Sitzung erklärte ihm Dr. Bohlscheidt, dass er sich nun entscheiden müsse, ob er die Psychotherapie bei ihm nun machen wolle. Sie würde zwei Jahre mindestens dauern, und er müsse drei- bis viermal die Woche erscheinen. Er solle sich telefonisch melden, und dann könne man den eigentlichen therapeutischen Prozess beginnen.
Nachdem sich Berthold wieder nach etwa einer Woche erholt hatte, sagte er Dr. Bohlscheidt ab. Der schien am Telefon nicht beleidigt, warnte ihn aber eindringlich davor, alleine zurechtkommen zu wollen. Die schwere Störung, unter der Berthold leide, müsse ausgesprochen ernst genommen werden. Berthold stöhnte und wollte seine Entscheidung schon wieder rückgängig machen. Das kurze Telefongespräch bewirkte fast eineinhalb Tage latente Panik. Aber dann erfüllte ihn der Gedanke, den blassen, todernsten Mann mit dem düsteren Treppenhaus und den dunklen Wartezellen nie wiedersehen zu müssen mit solcher Erleichterung, wie er es sich generell für sein Leben wünschte.
Zufrieden war er freilich nicht. Er konnte nicht davon ausgehen, dass sein Problem nun gelöst sei. Die kommenden drei Wochen hatte er merkwürdigerweise Ruhe, obwohl er in dieser Zeit ein wiederum sehr unerfreuliches Treffen mit Margit hatte. Sie hatte sehr schlechte Laune, wollte aber gleichzeitig nichts über die Gründe dafür verlauten lassen. Sie meinte ohnehin herausgefunden zu haben, dass das Darüber-Reden nichts bringe. Dann fluchte sie wieder über ihre „blöde Mutter“, und verkündete bald darauf, dass sie die nächsten drei Wochen Zeit für sich bräuchte und keinen Kontakt wollte. Die Aussicht traf Berthold wie ein Schwarm vergifteter Pfeile. Margit versäumte auch nicht, von ihrem ungarischen Gesangslehrer zu schwärmen, dem sie zu dessen Geburtstag eigens eine Torte gebacken hatte. Sie genoss es, Bertholds eifersüchtiges Gesicht zu betrachten. „C’est moi!“ pflegte sie dann immer zu sagen und setzte dabei ein schwül-erotisches Lächeln auf.
Berthold hatte Margit bereits über eine Woche nicht mehr gesehen und auch keinerlei
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