Die schlafende Stadt
blieb doch so distanziert, dass sie stets das Begehren zurückließ, mehr Nähe und Aufmerksamkeit von ihr zu bekommen. Sie war der prächtigste, anmutigste Vogel im ganzen Käfig, doch keiner würde sie je bekommen. Sophia genoss das Verlangen in all ihren Augen, denen der Jungen wie der Alten. Gleichwohl machte sie dies so dezent und unschuldig, dass ihr auch das Wohlwollen aller Damen sicher war. Sie war jung und unschuldig, und rührte das Herz all derer, die mütterliche Gefühle in sich bargen.
Doch als das Licht erlosch, konnte das Spiel endlich vorüber sein und das echte Leben beginnen. Die Menschen um Sophia herum verschwanden in der Dunkelheit. Das Leben begann mit der Musik. Da war nichts Theater und falsche Vorgabe. Alles an Anspannung fiel von ihr ab. Pelléas & Mélisande . Claude Debussy. Eine aufwühlende, zuweilen ætherische Musik. Zu wundervoll, um sie mit Worten zu beschreiben. Sophia ließ sich tragen von alldem, ließ sich treiben von den Wellen von Gefühl und Schönheit, mystisch, tief, dann wieder wild und leidenschaftlich, verzweifelt und doch ... allein .
Tränen rannen ihr über die Wangen. Erst eine, die sich zaghaft in ihrem rechten Auge bildete und sich auf den Weg machte. Dann weitere. Tränen der Trauer, Tränen der Rührung. Tränen der Freude. Tränen der Sehnsucht. Tränen, die etwas aus ihr fließen ließen, die etwas herauswuschen, was lange in ihr hatte verbleiben müssen, Rückstände, Ablagerungen von Schmerz, Demütigung und unterdrücktem Hass, Regungen, die verpönt waren in jener Welt aus Oberflächlichkeit und rigiden Verboten. Es tat gut, endlich weich zu sein. Sophia tat es stumm, unsichtbar und dennoch hemmungslos. In diesem Augenblick war sie sie selbst. Niemand würde es sehen. Plötzlich fühlte sie eine warme Hand auf der ihren, die sie vorsichtig streichelte. Dann fühlte sie Claudines Lippen auf ihrer tränennassen Wange.
Sophias Vater war erkrankt. Der Brief erreichte sie Ende November 1893. Der Arzt verschrieb ihm einen sofortigen Aufenthalt von mehreren Monaten im Süden, da die feuchtkalte Luft des Winters ihn dem Tode nahe bringen könnte. Sophias Mutter beschrieb in gewohnt sachlichem Ton die Fakten, dass man sich bei rechtem Verhalten keine Sorgen machen müsse, dass dies aber auch bedeute, dass Sophia zu Weihnachten im Hause Hirschberg verbleiben möge. Die Familie Sommerfeldt werde die Wintermonate in der Toskana verbringen. Vaters Weberei werde in dieser Zeit von seinem Vetter weitergeleitet, der sich in der letzten Zeit recht anständig verdient gemacht habe, auf dass Vater die Zügel mit einigermaßen ruhigem Gewissen für eine Weile aus der Hand legen könne, um sich ganz seiner Genesung zu widmen.
Die herbe Enttäuschung, die dies für Sophia bedeutete bewirkte noch eine Veränderung der anderen Art. Bisher war sie verwirrt und unschlüssig gewesen, wie sie sich Claudine gegenüber verhalten sollte. Claudines eindeutigen Liebesavancen hatten sie in einen schweren Konflikt gestürzt.
Sie liebte Claudine nicht. Gleichwohl mochte sie sie sehr und der Gedanke, sie enttäuschen zu müssen, tat weh. Doch als ihr Ziel, endlich wieder nach Hause zu kommen, um für immer von ihrer widerwärtigen Tante und ihrem lüsternen Onkel erlöst zu werden, so plötzlich und grausam verloren war, wurde Claudine wieder zu der einzigen rettenden Oase in einer lebensfeindlichen Wüste.
Sophia hatte Claudine nie eine Absage erteilt. Sie ertrug ihre Zärtlichkeiten, ohne sie zu erwidern. Sie bemerkte jetzt Claudines Gefühle besonders oft, wie häufig Claudine versucht war, sie zu berühren und zu küssen.
An diesem Abend erwiderte sie erstmalig einen Kuss. Claudine bebte vor Erregung und zog sie zu sich heran. „Meine Sophia!“ hauchte sie. Mehr ließ Sophia nicht zu.
„Verzeih mir!“ sagte sie. „Es ist so neu für mich. Ich hatte zeit meines Lebens nie daran gedacht, eine Frau zu lieben ...“
„Du sollst deine Zeit haben, Liebes!“ sagte Claudine und streichelte ihren Nacken. „Ich verstehe dich. Aber du musst auch wissen, wie glücklich mich deine Nähe macht.“
Sophia sah ihr in die Augen. „Eines weiß ich sicher: Bei dir ist eine Minute viel schöner als ein ganzes Jahr bei den Hirschbergs.“
Claudines Gesicht war voller Leidenschaft. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Oh meine Kleine! Dann komme zu mir! Gehe weg aus diesem Hause, das dir mehr Kummer macht als Freude! Ein Mensch wie du sollte glücklich sein, geliebt und
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