Die schlafende Stadt
geborgen!“
„Aber Claudine, ich ...“
„Du würdest ein eigenes Zimmer in meiner Wohnung bekommen. Ich werde dich zu nichts zwingen. Dafür liebe ich dich zu sehr. Sei nur einfach bei mir.“
Nur eine Woche später stand Sophia Entschluss fest. Sie fühlte Scham in sich aufsteigen, denn sie wusste, dass Claudine, ungeachtet ihrer Versicherung, ihren Einzug in ihre Wohnung als Versprechen auffassen würde. Dieses würde sie jedoch niemals erfüllen können. Andererseits schrie alles in ihr danach, aus diesem Gefängnis zu entkommen, das Vornehmheit und Unterstützung heuchelte.
Ein Anlass war eine boshaft inszenierte Erniedrigung durch Madame, dies in Gegenwart zweier Besucher, kirchlicher Würdenträger, mit denen sie im Begriff war, die Verwendung einer großzügigen Spende zu Bauzwecken zu besprechen. „Meine liederliche Nichte hier“, ließ sie mitten im Gespräch einfließen, „wird für solche Vorhaben vermutlich wenig Verständnis haben. Sie zieht es vor, sich am Pariser Nachtleben zu ergötzen, anstatt züchtige Einkehr zu halten.“ Herablassend sah sie herüber.
Sophia spürte, wie sie errötete und hasste sich dafür. So gefasst wie es ihr möglich war, schaute sie in die verächtlich blickenden Gesichter.
„Meine Tante tut gut daran, mich auf meine Fehler hinzuweisen“, sagte sie. „Selten findet man heutzutage jemanden, dessen größte Tugend die Ehrlichkeit ist. Ich danke ihr sehr dafür.“
„Ihre Einsicht spricht für Sie, Mademoiselle“, erklärte der eine, ein dickbäuchiger kleiner Mann mit gewaltiger, geröteter Nase, und sein Kollege, ein blasser, kränklich aussehender junger Priester nickte schwach dazu. „Christus verzieh auch dem Sünder, der neben ihm am Kreuze hing.“
„Sie sind ein raffiniertes kleines Biest“, lächelte Madame Hirschberg zu Sophia, „ihnen fällt stets etwas Passendes ein, um den angemessen schlechten Eindruck, den Sie machen, abzumildern. Dennoch machen wir uns größte Sorgen um Sie und um ihren ständig drohenden moralischen Abstieg. Vor allem aber um den Einfluss, den Sie auf unsere Kinder haben.“
Sophia schluckte die Unverschämtheit diesmal mit einem Lächeln ohne zu erröten. Madame wandte sich wieder den frommen Herren zu.
„Wir sind aus familiären Gründen natürlich moralisch verpflichtet, uns auch um entlaufene Schäfchen zu kümmern“, erklärte sie.
„Ihre Güte ist uns seit vielen Jahren wohlbekannt“, sagte der Rundliche eifrig. „Es überrascht mich nicht, dass dies nun auch solche soziale Tätigkeiten betrifft.“
Madame lächelte dankbar. „Ich versuche stets mein Bestes. Manchmal scheint das Beste aber nicht gut genug zu sein.“ Sie seufzte resigniert.
„Deswegen würde ich es nun vorziehen, wenn Sie uns mit ihrer Gegenwart verschonten“, fügte Madame zu Sophia gewandt hinzu. „Wir haben nun Dinge zu erörtern, von denen Sie nur wenig begreifen dürften.“
Sophia machte ihre üblichen Verbeugungen der Ehrerbietung und zog sich zurück. Sie biss sich auf die Lippen vor Wut.
Bereits am gleichen Abend ergab es sich, dass ihre Rache an Madame unerwartete Nahrung erhielt. Onkel Edgar war zum Ende der Woche wieder eingetroffen und war ob eines guten Geschäftes glänzender Laune. Dies nahm er zum Anlass, an diesem Abend gleich zwei Flaschen teuren Rotweines zu leeren. Schmatzend stürzte er sich auf den Lammbraten und erzählte behaglich kauend von seinen großartigen Erfolgen, die seinen Einfluss in Marseille beträchtlich steigern würden. Je mehr sich der Pegel in den Flaschen senkte, desto redseliger wurde er. Er begann, von der Herrlichkeit der Liebe zu schwärmen und den Wonnen, die nur das Weib den Männern zu geben imstande sei. Seine Hände beschrieben kugelige Gebilde in der Luft von beträchtlicher Größe, die mit der mageren Figur von Madame offenkundig nicht das Geringste zu tun hatten. Madame versuchte, gütig dazu zu lächeln, aber ihr entgingen nicht die anzüglichen Blicke, die ihr Gatte Sophia zuwarf.
„Wahrlich, manchmal gibt es den Himmel auch auf Erden“, sagte Edgar und fixierte Fernandes Hinterteil, die gerade das Dessert auftrug. Gedankenverloren pulte er mit seinem Fingernagel in den Zähnen. „Ein praller Frauenarsch ist das Herrlichste, was Gott je geschaffen hat.“
„Ich fände es angebracht, wenn du dich etwas zurückhalten würdest“, sagte Madame leise.
„Ach, fändest du das?“ Edgar war bereits so betrunken, dass seine Zunge sich schwer anhörte. „Ich finde, bei
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