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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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Zangen, Messer, Sägen und Beile benötigt wurden. Ein hohles Stöhnen drang an sein Ohr. Begriff das Opfer immer noch nicht, was mit ihm da veranstaltet wurde? Darius versuchte krampfhaft, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Etwas Schönes, das seine Gedanken hinwegzwang, fort von diesem Grauen.
    Das erste, was ihm einfiel, war jenes Gedicht von Audomar Killywell aus dem schmalen Gedichtband, das er aus der Bibliothek entwendet hatte.

    „Bist du auch weit fort von mir, bin ich dir doch nah.“

    Darius atmete schwer. Er versuchte, ruhiger zu atmen.

    „Und schau’ ich in die Ferne, stehst du vor mir.“

    Es wirkte. Wie eine kleine Flamme, die das Dunkel von ferne erhellt.

    „Verlässt du mich, wohnst Du in meinem Herzen.“

    Das Licht wurde heller. Die kalten, nassen Schwingen der Angst wurden leichter.

    „Und meine Träne ist süß.“

    „Meine Geliebte“, betete er im Stillen, „ich finde dich!“ Immer wieder sagte er es, bis vor seinem inneren Auge die wundervollen grünen Augen wieder auftauchten. Das schöne, ernste Gesicht mit den wehenden, schwarzen Haaren. Es war wie eine lebendige Kraft, die davon ausging.
    Diese Kraft ermöglichte es Darius, sich wieder in Richtung der Wendeltreppe zu bewegen. Endlich fühlte er die Sicherheit der alten, ausgetretenen Stufen wieder unter seinen Füßen. Grauenerfüllt registrierte er jetzt die gedämpften schmatzenden Geräusche, die er aus dem Tempel noch kannte. Als drängen schwere Äxte in Fleisch und Knochen ein, begleitet von einem leisen Wimmern.

    Darius verlor nicht viel Zeit. Nachdem er sich kurz gesammelt hatte, stieg er die Stufen weiter hinauf. Seine Knie schlotterten und konnten ihn kaum tragen. Nur wenig weiter kam er an eine Tür.
    Für ihn war das noch eine zu unheilvolle Nähe zu dem, was er gerade hatte sehen müssen. Die Tür war nur unwesentlich höher als das Fenster, durch das er gerade hindurchgeblickt hatte; sie führte vermutlich direkt in den gerade ausgespähten Bereich. Die Wendeltreppe führte aber weiter. Darius setzte daher seinen Weg fort und fühlte eine leise Erleichterung mit jedem Meter, den er zwischen sich und den weißgekleideten Schlächtern und ihrem willigen Opfer brachte. Mit dem Grauen des Albdrucks wich auch die Körperstarre, die Darius erst jetzt an sich bemerkte. Gleichzeitig wurde ihm die Absurdität der ganzen Szene bewusst. Was nur bezweckte man mit diesem Abschneiden, Aufschneiden, Abhacken? Warum war der magere Mann so ruhig und willig, obgleich er so offenkundig verstümmelt und seziert, ja vermutlich sogar völlig zerhackt wurde? Das ganze war weder Heilung noch Folter. Und doch fand es statt in einem geheimen Saal tief unter der Erde, ebenso verborgen wie routiniert. Die Weißgekleideten machten den Eindruck, als praktizierten sie dies regelmäßig, so nüchtern und sachlich hatten sie ihr Werk vollbracht. Darius schauderte. Wie oft mochte von ihm unbemerkt und allen anderen Bewohnern der Stadt Ähnliches bereits stattgefunden haben? Und warum? Er musste unbedingt zu Uriel.
    Zunächst aber wusste er noch nicht einmal, wo er war und wie er wieder nach Hause kommen konnte. Er stieg weiter. Wenn dieser Weg ihn nirgendwohin führte, würde er doch durch jene Tür gehen müssen.
    Bald erreichte er jedoch eine weitere, ähnliche Tür, offenbar ein Stockwerk höher. Ein Ende der Treppe war noch immer nicht in Sicht. Darius entschied sich dennoch, diese Tür zu versuchen.
    Sie öffnete sich mit leisem Knarren. Sein Blick traf auf eine massive Mauer. Rechts und links jedoch setzte sich jeweils ein Gang fort. Darius wurde unruhig. Wohin nur führte ihn dies wieder? Er fühlte sich verstört und verloren. Gerieben von der Notwendigkeit schlug er den rechten Weg ein.
    Der Gang krümmte sich leicht nach links. Darius registrierte aber, dass er auf dem Boden mit Steinfliesen bedeckt war, im Gegensatz zu dem roh behauenen Stollen von gerade. Nach einer Weile stutzte er. Er war auf einen Lichtschein gestoßen, auf ein rundes Fenster, das ihm bekannt vorkam. Er sah hindurch.
    Er blickte in die Bibliothek!
    Er war also schließlich in dem ihm bereits bekannten Rundgang gelandet, der wieder in den Lesebereich führte. Da er durch das Guckloch lesende Bürger erkennen konnte, schloss er daraus, dass er noch vor Tagesanbruch im Observatorium sein werde.
    Trotz aller Verwirrtheit spürte Darius Erleichterung. Bald schon fand er die wohlbekannte Rundbogentür wieder und er verschaffte sich wie schon einige Zeit zuvor

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