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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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dass ihnen das bewusst war. Ich bin mir sicher, dass Ihre Probleme so ähnlich funktionieren, wie Ihre Geschichte mit der Blauen Violine.
    Dies ist auch inzwischen eingegangen in die Psychotherapie. Man hat erkannt, dass jeder Mensch ein Teil eines größeren Ganzen ist. Ein Teil seiner Familie. Man kann ihr nicht entkommen. Unbewusst will man es auch gar nicht. Wir sind eben unsere Familie. Daher ist alles in einem Menschen verdichtet, was es an Normen und Werten, aber auch an Problemen und Ängsten in dieser Familie gibt. Dies entspricht auch unserem Urbedürfnis nach Zugehörigkeit.
    Um eine Angst zu fühlen, ist es nicht erforderlich, selbst etwas Schlimmes erlebt zu haben. Es genügt, wenn es eine Angst in der Familie gibt. Wenn jemand in der Familie etwas Schlimmes erlebt hat.“
    „Aber was sollte das sein? Meine Eltern leben beide noch, sie verstehen sich nach wie vor gut. Es war nie die Rede davon, dass sie sich trennen wollten, im Gegenteil. Und auch ihnen ist nie etwas Dramatisches passiert.“
    „Es könnte durchaus früher sein. Ich weiß, es ist ungewöhnlich, so zu denken, obgleich dies in anderen Kulturen völlig selbstverständlich ist. Ihre Eltern wuchsen ja schließlich wiederum bei ihren Eltern, also den Großeltern aus Ihrer Sicht, auf, und übernahmen ihre Lebensgefühle und Lebensthemen von jenen. Das ist gar nicht weit entfernt. Selbst aus der Generation davor wäre etwas denkbar, was für Ihr Leben eine Rolle spielt.“
    Sie sah Berthold an. „Erzählen Sie doch einmal. Haben Sie Geschwister?“
    „Ich habe noch zwei jüngere Schwestern, Audrey und Julia. Audrey wird Architektin wie mein Vater. Julia will Psychologie studieren.“
    „Ihren Schwestern geht es gut?“
    „Mir ist nichts Auffälliges bekannt.“
    „Warum haben Sie englische Namen?“
    „Meine Mutter stammt aus Schottland. Mein Vater lernte sie kennen, als sie hier ein Praktikum als Buchhändlerin gemacht hat.“
    „Ein schönes Land. Waren die Familien Ihrer Eltern mit der Verbindung einverstanden?“
    „Es blieb ihnen nichts anderes übrig. Sie waren kaum zusammen, da war ich schon unterwegs.“ Berthold grinste. Es war ihm immer etwas eigenartig zumute, wenn er sich seine Eltern bei seiner Zeugung vorstellte.
    „Dann sind Sie also ein Kind der Liebe.“
    „Das ist sicher so. Leider scheint es zurzeit wenig zu nützen.“
    „Sagen Sie das nicht. Ich bin sicher, dass wir den geheimen Sinn Ihrer Ängste herausfinden werden“, sagte Frau Goldblatt. „Gab es etwas Dramatisches im Leben Ihrer Eltern?“
    „Schon eher. Der Vater meiner Mutter ist abgehauen. Da war sie sechs. Er hat sich seitdem kaum noch blicken lassen. Ich habe ihn allerdings einmal mit ihr zusammen besucht. Ich fand ihn gar nicht so übel. Er hat sogar geheult, als er mich sah. Er lebte in einem kleinen Haus in einem Dorf an der Westküste. Seitdem sehen wir uns ab und zu. Meiner Mutter hat das, soweit ich es mitbekommen habe, sehr gut getan. Er schreibt uns jetzt regelmäßig.
    Mein Vater hat noch vier ältere Schwestern. Er hat seine Mutter verloren, als er zwölf Jahre alt war. Sie starb an Krebs, glaube ich. Das muss sehr schlimm gewesen sein für ihn.“
    „So etwas ist immer sehr schlimm. Aber vielleicht ist das der Grund, warum die Ehe Ihrer Eltern so gut hält. Jeder kann den anderen besonders gut verstehen. Jeder fängt den Verlust des anderen auf.“
    „Das würde gut passen. Ich habe oft den Eindruck, sie klammern sich aneinander.“
    „Gibt es noch irgendwo in der Familiengeschichte einen Mann, dem etwas Dramatisches zugestoßen ist?“
    „Einen Mann ...?“
    Berthold überlegte eine Weile. Er hatte Familiengeschichte immer sehr spannend gefunden, besonders die Zeit der Kriege, die ihm sehr unwirklich und weit weg erschien, obwohl sein Vater seine ganze Kindheit im zerbombten Deutschland verbracht hatte. Jetzt wurde ihm bewusst, wie wenig er wusste. Er kramte in seinen Erinnerungen. Was hatte sein Vater noch immer wieder erzählt?
    „Also, mein Großvater war im Krieg“, sagte Berthold endlich. „Er war Soldat. Er war kurz in Gefangenschaft, und als er nach Hause kam, war mein Vater schon zwei Jahre alt. Er sprach immer von den sieben verlorenen Jahren seines Lebens.“
    „Was wissen Sie noch von ihm?“
    „Er hat nie wieder geheiratet, nachdem meine Oma gestorben war. Aber er ist irgendwie gut. Lustig. Er erzählte gerne lustige Geschichten. Er trinkt gerne einen guten Wein und schätzt gutes Essen. Er ist, glaube ich, auch der

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