Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
Vom Netzwerk:
Zutritt zum Lesebereich durch das Bücherregal. Leise klopfte er den Staub von seiner Kleidung und verließ die Bibliothek langsam und unauffällig.
    Ein ganz normaler Bürger der Stadt, gläubig und ergeben.

Es gibt in der Psychologie viele unlösbare Rätsel, das unheimlichste aber und aufregendste von allen erschien mir stets die Tatsache – die übrigens von den Psychologen kaum je erwähnt worden ist -, dass wir oft, wenn wir etwas längst Vergessenes wieder in unser Gedächtnis zurückrufen wollen, bis an die Schwelle des Erinnerns gelangen, ohne doch das, was sozusagen schon vor uns steht, wirklich festhalten zu können.
    Edgar Allan POE, Ligeia

    „ G uten Tag. Frau Goldblatt?“
    „Die bin ich. Und Sie sind Herr Brückner?“
    Die ältere Frau, die Berthold die Tür geöffnet hatte, mochte bereits Mitte siebzig sein. Sie hatte ein sehr markantes, zerfurchtes Gesicht, mit offenen, langen grauen Haaren und dunklen, wachen Augen, die recht streng, fast etwas hexenhaft blickten. Dies wurde durch die tiefschwarzen, starken Augenbrauen noch betont. Sie war schlank und trug ein elegantes dunkles Kleid. Sowohl an ihren Ohren wie um den Hals hing schwerer Goldschmuck, ihr Halstuch wurde durch eine große Goldbrosche mit einem blutroten, rautenförmigen Stein zusammengehalten.
    „Kommen Sie herein und setzen Sie sich.“
    Es klang freundlich, aber auch distanziert. Berthold war sich nicht sicher, wie er den Blick und den Tonfall deuten sollte.
    Frau Goldblatt geleitete ihn direkt ins Gesprächszimmer. Es war üppig eingerichtet, es passte zu seiner eleganten Besitzerin. Alte Möbel, ein fünfflammiger Jugendstilleuchter an der Decke, ein gewaltiges Bücherregal, das so angefüllt war mit Wissen und Gelehrsamkeit, dass einige Bücher bereits auf dem Boden gestapelt waren. Eben dieser Boden war fast vollständig von einem schweren orientalischen Teppich bedeckt. Dominiert aber wurde der Raum von einem überdimensionalen alten Schreibtisch, der ebenfalls mit Büchern, aber auch mit Zetteln, Zeitschriften und Briefen bedeckt war. Auffällig war die Schreibtischlampe in Gestalt eines kleinen Affen, der mit emporgerecktem Arm die leuchtende Glastulpe hielt.
    Am meisten angezogen wurde Berthold aber unvermittelt von einem merkwürdigen Gemälde an der Seitenwand. Es war sehr dunkel, und es zeigte eine eigenartige Stadt an einer felsigen Meeresküste, die offenbar auf einem steilen Berg erbaut war. Immer höher türmten sich bizarre Bauwerke unterschiedlichsten Baustils, alles aus schwärzlichem Stein, es gab Kuppeln, Türme, Balustraden und Spitzdächer, bis hin zu einer düsteren Burg mit einem eigenartig hohen Mittelturm, die die ganze Stadt beherrschte wie ein übermächtiger Wächter. Dicke schwarze Wolken ballten sich am Himmel, obgleich das Meer im Vordergrund ganz ruhig wirkte.
    „Eindrucksvolles Bild.“ Berthold war das ernste Schweigen unangenehm.
    „Das ist es. Ein Werk einer jungen, sehr begabten Künstlerin.“
    „Es wirkt ein wenig unheimlich.“
    „Ja, das stimmt. Aber es gibt eindrucksvoll eine Stimmung wieder, die mir in meinem Leben immer wieder begegnet ist.“
    „Oh, das kenne ich.“ Berthold bemühte sich um ein Lächeln.
    „Der Schrecken ist ein Teil des Lebens. Manchmal ist es eher das Leben selbst, das erschreckt. Deshalb sind Sie doch hier?“
    Frau Goldblatt bot ihm einen Platz auf der rustikalen Ottomane an, die einen Teil der Sitzgruppe ausmachte. Sie selbst setzte sich in einen Sessel.
    „Was kann ich für Sie tun?“ fragte sie milde. Der stechende Blick war jetzt verschwunden.
    „Es geht mir schlecht“, sagte Berthold. „Und ich finde keinen Grund, warum.“
    „Was bedeutet: ‚Schlecht’?“
    Die Situation war noch fremd. Berthold vermochte erst, den Anfang nicht zu finden.
    „Ich habe Ängste“, sagte er dann. „Fürchterliche Ängste. Sie überfallen mich meistens nachts. Und ich habe Alpträume. Mir ist alles zu viel. Ich gedenke, mein Studium abzubrechen. Und das, was ich bisher gemacht habe, schadet mir auch.“
    „Was studieren Sie?“
    „Philosophie, mit Psychologie und Musikwissenschaft.“
    „Und was sollte Ihr Studium mit Ihrer Angst zu tun haben?“
    „Es ist mir zu versponnen. Die ganzen Fragen nach dem Sinn und Zweck des Daseins ... es verleitet mich zum Grübeln. Anfangs dachte ich, es hilft mir beim Schreiben. Jetzt glaube ich, es tut mir nicht gut.“
    „Und von welcher Tätigkeit sprachen Sie noch?“
    „Ich bin Schriftsteller.“
    „Ist das ein

Weitere Kostenlose Bücher