Die schlafende Stadt
jüngste.
Aber da fällt mir ein: Er hat seinen Vater nie kennengelernt. Er ist im Ersten Weltkrieg gefallen. In Tirol, in den Dolomiten. Der war schon tot, als mein Opa geboren wurde.“ Berthold fühlte zu seiner Überraschung plötzlich etwas wie einen Stich in seiner Seele. Etwas schmerzte.
„Das heißt: Er verlor seinen Vater im Krieg, und musste dann selber in einen Krieg, und ließ ebenfalls einen kleinen Sohn zurück, der ihn womöglich auch niemals kennenlernen würde?“
„So ist es. Jetzt, wo Sie es sagen, fällt es mir erst auf.“
„Ich sehe, da gibt es aber Einiges in Ihrer Familie, was sehr dramatisch ist.“
„Gut, das sehe ich jetzt auch so. Nur: was sollte das alles mit mir zu tun haben?“
„Ich möchte Ihnen hierzu etwas erklären.“
Frau Goldblatt lehnte sich zurück in ihren Sessel.
„Ich und auch viele andere, die sich mit Psychotherapie beschäftigen, haben irgendwann gesehen, dass ein seelisches Leid oft unerklärlich bleibt, wenn man einen Menschen als Einzelperson, also ganz individuell und losgelöst von seinem ursprünglichen sozialen Kontext begreift. Sehr oft ist aktuell alles weitgehend in Ordnung; auch die Biographie liefert häufig keine Erklärung für eine schwere Symptomatik. Viele Kollegen aus der Psychiatrie zum Beispiel schauen bei einem psychischen Problem, ob es aktuell irgendwelche Belastungen gibt, oder ob es traumatische und unbewältigte Ereignisse im Leben eines Menschen gab. Wenn sie nichts dergleichen finden, schließen sie auf eine organische Krankheit. Das ist aber sehr voreilig und zudem unwissenschaftlich.
Schaut man nämlich auf die Familie, aus der ein Mensch stammt, wird man in der Regel fündig, nur anders, als viele meinen und man auch meinen möchte. Das heißt: Menschen tragen etwas Schweres mit sich, das eigentlich gar nicht das Eigene ist, sondern von jemand anderem stammt. Am naheliegendsten ist es, wenn ein Kind, das in eine Familie hineingeboren wird und vielleicht einen Elternteil als belastet erlebt, diese Last übernimmt. In der Wirklichkeit eines kleinen Kindes geht das nämlich, weil Kinder einerseits eine noch überaus innige Verbindung zu den Eltern haben, andererseits Wirklichkeiten noch nicht realistisch einschätzen können. Daher entstehen Wunschbilder, alles möge gut werden und alle mögen glücklich sein, so wie im Märchen.
Aber auch die Kernfamilie, also Vater, Mutter und die Kinder, können an sich ganz normal und unauffällig sein. Interessant ist, dass meistens in der Großelterngeneration, manchmal sogar noch eine Generation zuvor ein Ereignis findet, was dramatische Folgen hat, nicht nur für denjenigen, dem es passiert, sondern auch für nachfolgende Generationen. Daher habe ich Sie nach Ihrer Familiengeschichte gefragt.“
Berthold fand sich in einer Mischung aus Andacht und Zweifel. Etwas in ihm sagte, dass Frau Goldblatt Recht haben könnte, so ernsthaft und erfahren wirkte sie. Eine andere Seite in ihm argwöhnte esoterischen Mumpitz.
Etwas in Frau Goldblatt schien amüsiert. „Meine Ausführungen erscheinen Ihnen wahrscheinlich etwas ... ungewöhnlich?“
Berthold überlegte, fand aber nicht die richtigen Worte. Schließlich sagte er: „Es will mir nicht in den Kopf, dass meine Ängste etwas mit meinem Großvater oder sogar Urgroßvater zu tun haben könnten. Obwohl ich andererseits merke, dass sie in mir etwas angerührt haben.“
Das stimmte. Berthold merkte es erst, als er es jetzt sagte. Etwas Trauriges war aus der Tiefe in ihm aufgestiegen, das jegliche Angst vollkommen verdrängte. Gleichzeitig fühlte sich sein Geist weit an, so als habe er sich eine Tür geöffnet.
„Wenn Ihr bisheriges Wissen ausgereicht hätte, hätten Sie Ihr Problem vielleicht längst gelöst. Aber vielleicht bedarf es auch einer weiteren Dimension von Einsicht, die in Ihrem bisherigen Denken nicht vorkam?
Bedenken Sie, welch lange Zeit Sie mit Ihren Eltern verbracht haben. Es war sogar eine besondere, sehr prägende Zeit. Ihre ganzen ersten Erfahrungen im Leben haben Sie in Ihrer Familie gemacht.
Ihre Eltern wiederum stammten ja ihrerseits wieder aus ihren Familien und haben genauso wie Sie das, was sie über ihre Eltern erlebten, verinnerlicht und an Sie weitergegeben. So weit weg ist das alles gar nicht.“
Frau Goldblatt sah in eine unbestimmbare Ferne. Ganz verklärt sah sie aus und ihre Augen glänzten.
„In anderen Kulturen“, sagte sie, „ist diese Art, Dinge zu begreifen, ganz selbstverständlich. Sie war es
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