Die Schlaflosen
trifft, dann weià er: Das ist es, so muss es sein, so und nicht anders.
Bei den meisten Ausstellungen von heutiger Kunst aber überfällt ihn unbeschreibliche Müdigkeit. Und er fragt sich, ob das etwas mit dem Alter zu tun hat â diese zunehmende Unlust, etwas ernst zu nehmen, das ihn, wenn er ehrlich ist, meist anödet.
Aber was machen Sie dann beruflich?, fragt er.
Raten Sie!
Margot hat den Mund vorgeschoben und blickt ihn schräg von der Seite an. Sieh mal an, denkt Rottmann, sie sieht jetzt richtig leichtfertig aus, und merkt dabei, dass er sein Glas bereits geleert hat. Er muss es in einem Zug ausgetrunken haben. Er spürt, wie ihn der Alkohol belebt, und plötzlich hat er das Gefühl, der Abend könne gut werden, auch wenn der Schlafpapst viel später auftaucht und wenn alles anders wird als erwartet, selbst dann könnte es ein gar nicht so schlechter Abend werden.
Margot hat die Kappe abgenommen und das Haar mit einem Griff auf dem Kopf gebündelt, mit einer Spange befestigt und wieder mit der Kappe bedeckt. In diesem Augenblick kann Rottmann sehen, wie grau ihr Scheitel ist. Von vorne betrachtet, ist die Frisur jetzt rechts etwas höher als links, und dieser schräge Eindruck gefällt ihm. Auch ihre Lippen, die, wenn sie lacht, ungewöhnlich breit wirken. Fast zu breit, aber genau das ist es, denkt er. Sie sieht aus wie eine Frau von Nolde. Verstört, mit einer Ãbertreibung im Gesicht, nicht mehr wie Tony Buddenbrook.
Das mit dem Raten sei immer so eine Sache, sagt er, er könne sich einfach nicht vorstellen, aus welcher Ecke sie komme. Und wie um ihr ein Kompliment zu machen, schlägt er vor âºGaleristinâ¹. Ja, das würde zu ihrem Aussehen passen, irgendwas mit Kunst. Kuratorin an einem Museum oder etwas Ãhnliches â¦
Kalt, ganz kalt, da sei er auf dem Holzweg.
Er bittet sie, ihm einen Tipp zu geben.
Wenn Sie mich schon einer Prüfung in Menschenkenntnis unterziehen, bei der ich mich nur blamieren kann, dann müssen Sie mir helfen, sagt er.
Seine Mutter habe immer zu ihm gesagt, du hast erstaunlich wenig Instinkt, wenn es um die Einschätzung von Menschen geht, und erst recht von Frauen.
Sie überlegt, schlieÃt die Augen und zieht die Oberlippe nach innen, sodass sie plötzlich aussieht wie eine zahnlose Alte.
Sie sitzen nicht am Schreibtisch, Sie arbeiten nicht in einem Büro?
Und das wird halb, mit fächelnder Hand, bestätigt.
So geht es eine Weile hin und her, in der Margot erstaunliche Wandlungen durchläuft â von Opernsängerin über Lehrerin, Zahntechnikerin und Antiquitätenhändlerin. Jedes Mal schüttelt sie den Kopf, erstaunt über die Vielfalt von Möglichkeiten, die ihr ÃuÃeres nahezulegen scheint.
Ob sie es als Kompliment auffassen solle, dass sie zu so unterschiedlichen Projektionen anrege? Denn daraus müsse sie ja schlieÃen, dass Rottmann sie als Frau ohne Eigenschaften ansehe. Ob sie das freuen solle? Womöglich mache sie ja den Eindruck von jemandem, der keinen Charakter hat. Was bei einer jungen Frau vielleicht noch reizvoll wirke ⦠aber in ihrem Alter â¦
Rottmann unterbricht sie. Die Situation hat angefangen, kompliziert zu werden, und er hat eine tiefe Aversion gegen allzu Persönliches, Gefühle gar, und diese Aversion geht so weit, dass er sich schon überlegt, wie er seinem Gegenüber wieder entkommen kann, falls es zu prekär werden sollte. SchlieÃlich hat er die Berufsfrage gestellt, um bei den sachlichen Dingen zu bleiben und nicht in die privaten hineingezogen zu werden. So hebt er das Glas und prostet Margot zu.
Auf die schillernden Persönlichkeiten!
Sie prostet zurück.
Auf die Schlaf-Loser!
Auch ihr hat der Alkohol die Zunge befreit, und sie fängt an zu erzählen. Von ihren wechselhaften Tätigkeiten, davon, dass sie nichts zu Ende gebracht und immer wieder neu angefangen hat, von ihren Irrtümern mit Männern, ihren Trennungen, ihrer Freundschaft mit dem Vater ihrer Kinder, von ihrem Sohn, der ihr dieses Leben heute zum Vorwurf macht.
Sie holt tief Luft: Chaotin hat er mich genannt, Chaotenmutter.
Dabei sieht sie Rottmann in diffuser Erwartung an. Als er die Augen niederschlägt anstatt ihr zu antworten, rutscht ihr Blick nach innen. Plötzlich ist es, als säÃe sie für sich da, als gäbe es Rottmann nicht. Sie versinkt.
In diesem Moment erscheint der Kellner, ein junger Berliner, der
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