Die Schlaflosen
einer Raststätte, ich hab es heute morgen nicht einmal bis hierher geschafft. Früher bin ich durchgefahren bis Griechenland â¦
Ihre Kappe ist verrutscht, sie hängt zu weit in die Stirn, wie bei einem Clown.
Im Ernst, Sie sehen nicht wie eine Schlaflose aus.
Machen Sie sich nicht lustig über mich!
Sie droht mit dem Finger. Er legt die Hand auf ihre Sessellehne und ist versucht, ihren Arm zu berühren.
Plötzlich ist er neugierig, wer sie ist. Ob sie alleine lebt oder mit einem Mann, was ihr Beruf ist, ob sie Geld hat oder sparen muss. Sie ist eine von den Frauen, die man schwer einschätzen kann, denen man nicht ansieht, woher sie kommen, die sich keinem Milieu zuordnen lassen. Sie könnte genauso gut Professorin für Mathematik sein wie Kindergärtnerin oder Geschäftsfrau, vielleicht Musikerin in einem Orchester oder Journalistin. Und ob sie im Osten oder im Westen Deutschlands gelebt hat, könnte er auch nicht sagen â¦
Wissen Sie was?
Sie richtet sich auf und stellt das geleerte Glas auf dem Tischchen ab. Wissen Sie was, schlägt sie vor, lassen Sie uns doch ins Restaurant gehn.
Nur etwas Kleines wolle sie zu sich nehmen, sie habe seit dem Frühstück nichts gegessen, ja, sie müsse gestehen, sie sei hungrig wie ein Bär, und wie es aussehe, komme der gute Professor ja ohnehin nicht so schnell.
So finden sich die beiden an einem kleinen Tisch im Wintergarten ein. Sie sind nicht die Einzigen, die sich hier die Zeit vertreiben wollen, mehrere Tische sind bereits besetzt, meist von allein Sitzenden. Nur an einem gröÃeren, runden Tisch in der Ecke auf der Parkseite sitzt ein Kreis von fünf Leuten, die heftig über etwas debattieren. Margot und Rottmann haben Plätze am entgegengesetzten Ende des Raums gewählt, man möchte ja nicht jedes Wort mithören müssen. Jetzt studieren sie die Speisekarte und bestellen Rotwein, Mineralwasser und eine Suppe, immer noch in der Annahme, dass der erwartete Professor bald eintreffen werde und man das Essen womöglich schnell beenden müsse.
Erzählen Sie, ich bin gespannt!
Rottmann hat sich, die Hände wie zum Beten zusammengelegt, zu Margot vorgebeugt und wartet. Aber es kommt keine Antwort. Sein Gegenüber schweigt.
Wenn Sie keine Journalistin sind, von der ich demnächst in einem Magazin einen Artikel mit dem Titel âºMein Wochenende mit Schlaf-Losernâ¹ lese, was machen Sie dann?
Wollen Sie das wirklich wissen? Ist es so wichtig, was man für einen Beruf hat?
Sie greift an ihre Kappe und rückt sie aus der Stirn.
Was würden Sie sagen, wenn ich, sagen wir, Pathologin wäre? Wenn ich Leichen sezieren würde?
Rottmann ist überrascht, darüber hat er noch nie nachgedacht, und überhaupt, in seiner Vorstellung arbeiten in der Pathologie immer Männer. Eine Frau kann er sich da schwer vorstellen, so etwas ist ihm noch nie in den Sinn gekommen.
Und? Sind Sie es?
Margot legt den Kopf schief und zeigt ihre breiten, hellen Zähne. Sie habe sich immer gefragt, ob sie sich in einen Pathologen verlieben könne. Einer, der so viel mit Toten zu tun hat. Einmal habe sie einer Obduktion beigewohnt, aus reiner Neugier, und seitdem stelle sie sich diese Frage. Kann man jemanden lieben, der von morgens bis abends Leichen aufschneidet? Der dem Tod so nah ist?
Also sind Sie es nicht?
Rottmann ist enttäuscht. In seiner Zeit als Künstler hatte er einmal die Idee, tote Menschen zu fotografieren. Ein paar Mal war es ihm gelungen, über die Beziehung zu einem Krankenhausarzt in die Pathologie zu kommen und sich von einem Assistenten die Toten aus den Kühlfächern ziehen zu lassen. Aber fotografiert hat er sie dann doch nicht. Etwas hat ihn davon abgehalten. Nicht dass es verboten war, das hätte ihm nichts ausgemacht. Auch wenn es erlaubt gewesen wäre, hätte er es nicht gekonnt. Denn plötzlich empfand er eine tiefe Abwehr gegen das, was er sich ausgedacht hatte. Eine Furcht vor dem Tod vielleicht, vor dem eigenen Tod womöglich, er weià bis heute nicht genau, was es war. Eine jähe Panikattacke jedenfalls, etwas Unüberwindliches. Und später hat er oft gedacht, vielleicht ist es die Furcht, Tabus zu brechen, die mich daran gehindert hat, etwas Radikales zu machen, etwas Existenzielles.
Bis heute kann er nicht genau sagen, was das sein könnte, wirkliche Kunst. Nur manchmal, wenn er ein Kunstwerk sieht und ihn ein Schreck oder Erstaunen
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