Die Schlaflosen
habe sie nicht erlebt. Es sei schlimmer gewesen als die Sache mit dem betrügerischen Mann und dem Verlust der Fabrik.
In diesem Moment tritt der Hotelleiter Sander Sandow in den Speisesaal und bittet um Aufmerksamkeit, indem er mit einer Gabel gegen ein Glas schlägt. Er habe keine Festrede vor, sondern eher das Gegenteil. Er müsse leider die unerfreuliche Mitteilung machen, dass der Professor nicht zu erreichen sei. Er habe alles versucht, sämtliche Polizeistationen der Umgebung kontaktiert, es sei aber nirgends ein Unfall gemeldet, und die Nachrichten an die Mailadresse, über die der Professor bis vor kurzem noch mit ihm kommuniziert habe, kämen alle zurück. Er wisse nun leider auch nicht mehr weiter. Er könne die Gäste nur um Geduld bitten und ihnen anbieten, es sich bequem zu machen. Vielleicht habe jemand Lust auf Sauna, er werde sie in Gang setzen lassen. Die Bibliothek stehe jedem zur Verfügung, und wer fernsehen wolle â im Raum hinter der Bibliothek habe Frau von Bülow einen groÃen Apparat aufstellen lassen.
Er kann gerade noch seinen Wunsch, den Abend zu genieÃen, aussprechen, als ein Herr aufspringt, der die ganze Zeit allein an einem Tisch unter der groÃen Fotografie saÃ. Er springt auf und wendet sich empört an die Gäste. Das sei ja wohl das Allerletzte, er habe einen Batzen Geld auf das Konto des Schlafgurus überwiesen, und jetzt das. Die anderen Gäste reagieren hilflos, niemand springt ihm zu Hilfe, alle schweigen. Sandow versucht, den aufgebrachten Herrn zu beschwichtigen. Man versteht nicht, was er zu ihm sagt, aber man kann sehen, dass er ihm gestikulierend etwas vorschlägt, was der Herr am Ende mit einem resignierten Nicken zu akzeptieren scheint.
Die darauf folgende Bemerkung einer Dame an dem Fünfertisch trifft Sandow an empfindlichster Stelle.
Die wollten vielleicht nur das Hotel mit uns füllen, sagt sie leise, aber doch so, dass er es vernehmen kann.
Wie soll er das Gegenteil beweisen, zumal seit Wochen kaum mehr als zwei, günstigenfalls drei Gäste das Haus bevölkern? Da macht ein volles Haus schon eine verdächtige Umsatzsteigerung aus.
Sandow beschlieÃt, die Sache abperlen zu lassen. Das war schon immer das beste Rezept gegen Angriffe der AuÃenwelt.
Ein neuer Gast
Na toll, alles alte Leute ⦠Inge Moll betritt den Speisesaal und hält nach einem freien Tisch Ausschau. Sie nennt sich selbst âºdie Mollâ¹, und wenn sie aus ihrer Ich-Perspektive zu ihrem Alter Ego spricht, etwa in Situationen der Selbstaufmunterung, redet sie sich mit Moll an. Etwa: »Jetzt mach mal, Moll, jetzt streng dich mal ein bisschen an, Moll â¦Â« Auch wenn sie nachts beim Wachliegen darüber nachdenkt, wie andere sich über sie das Maul zerreiÃen, formt sie Sätze, die mit âºdie Mollâ¹ anfangen. Etwa:
Die Moll ist zu kompliziert ⦠oder
Die Moll ist wirklich schwer zu ertragen, sie redet zu laut und auÃerdem immer dazwischen.
Derlei Selbstbetrachtung ist nicht ganz unzutreffend, denn auch Rottmann denkt sofort, als sie den Saal betritt und an dem sich leicht verbeugenden Sandow vorbei zu dem Tisch ganz hinten in der Ecke zwischen zwei Fenstern schreitet: Was für eine Frau!
Inge Moll ist nicht nur gröÃer als die meisten Frauen, sondern auch gewichtiger. Ihr schwarzes Haar wippt in wirren Locken um ihren Kopf, und bei ihrem blassen Gesicht denkt man sofort an ein älter gewordenes Schneewittchen. Das ist sie, denkt Rottmann, das ist sie, und ein glücklicher Schimmer erscheint auf seinem Gesicht, den Margot erst deuten kann, als sie sich umwendet. Da erblickt auch sie den neu hinzugekommenen Gast. Oh ja, so hat sie Rottmann eingeschätzt. Erscheint eine Frau wie diese, unterbricht er jeden Kontakt zu seinem Gegenüber, und er merkt es noch nicht einmal.
Komisch, denkt Margot, als hätte der Zufall sie geschickt, um meine Einschätzung von ihm zu bestätigen.
Kaum hat Inge Moll Platz genommen, ist auch schon der Kellner zur Stelle. Derselbe Kellner, dem Rottmann und Margot seit vielen Minuten vergeblich Zeichen geben, um eine Flasche Wasser zu bestellen. Lebhaft gestikulierend verständigt die Moll sich mit ihm über ihre Bestellung, und fast sieht sie aus, als wäre sie aus der groÃen Fotografie an der Wand herabgestiegen. Die vergangene Festlichkeit, die von dem menschenleeren Theatersaal ausstrahlt, in dessen Farben der Luxus früherer Zeiten
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