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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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hat?
    Ach – Rottmann zögert.
    Trinken wir einfach auf ihn –
    Ja, trinken wir auf ihn, prost!
    Wissen Sie … wissen Sie, manche Menschen sind in der Lage, eine dunkle Seite ihrer selbst so vollkommen zu verbergen, dass man, wenn sich diese Seite öffnet, nicht glaubt, es mit derselben Person zu tun zu haben. So war es bei meinem Schwager.
    Und Margot erfährt Rottmanns Version vom Leben ihrer Jugendliebe. Er und Rottmanns Schwester hatten vier Kinder zusammen. Sie sei vielleicht sogar glücklich mit ihm gewesen. Er war Professor an einer Hochschule in Süddeutschland.
    Rottmann spricht von dem gradlinigen Werdegang seines Schwagers und von seiner künstlerischen Zielstrebigkeit. Er selbst dagegen sei immer voller Zweifel, bei allem, was er tue. Zweifel und Zufall, das seien seine Begleiter, während sein Schwager immer davon überzeugt gewesen sei, das Richtige zu tun, auf beneidenswerte Weise identisch mit sich selbst.
    Es muss ein rauschhaftes Leben gewesen sein, so wie Rottmann davon spricht. Die herrlichsten Konzerte in den schönsten Kirchen, an den berühmtesten Orgeln, ein gefeierter Künstler, wo er auch auftauchte, mit Ehren und Bewunderung empfangen. Bis eines Tages sein Leben eine Wende nahm, mit der niemand gerechnet hatte. Eine Frau verklagte ihn, sie als Schülerin missbraucht zu haben. Ein Prozess fand statt. Er verteidigte sich so gut wie nicht, er gab auf. Und zugleich kamen eine Menge Geschichten mit Frauen und Studentinnen heraus. Gerüchte stürzten über die Familie herein, bis niemand mehr wusste, was er glauben konnte. Das Drama zog sich über Jahre hin, die Ehe zerbrach.
    Seit dieser Zeit hatte sich Rottmanns Schwager verändert. Bevor er von einem Tag auf den anderen seine Familie verließ, wurde er immer schweigsamer. Zuerst hat er nur noch das Nötigste gesagt, und was er für das Nötigste hielt, wurde immer weniger, bis er ganz aufhörte zu sprechen. Ohne Erklärung und ohne Abschied ist er eines Tages verschwunden, niemand hat gewusst, wohin. Bis sein ältester Sohn entdeckte, dass er sich in einem Haus in Südfrankreich aufhielt. Weder seine Frau noch seine Kinder haben je wieder ein Wort mit ihm wechseln können. Sein Sohn ist noch hingefahren, er wollte den Vater unbedingt sehen, er hing sehr an ihm. Aber da war er schon tot. Er hatte sich in eine Felsschlucht gestürzt. Die Bergung war schwierig und teuer. Später hat sich herausgestellt, dass die Anschuldigung der Frau nicht der Wahrheit entsprach. Das Ganze sei eine vollkommen unverständliche, irrationale Sache gewesen. Die Frau habe nicht einmal erklären können, was sie zu ihrer Verleumdung getrieben hat.
    Und die Geschichten mit den anderen Frauen?
    Rottmann zuckt mit den Schultern – wer hat schon keine Geschichten mit anderen Frauen oder Männern, seien wir doch ehrlich, als wäre das von Bedeutung.
    Merkwürdig, so viele Leute, die ich kannte, haben sich umgebracht, sagt Margot.
    Ein paar Mal ist auch sie selbst versucht gewesen, ihnen zu folgen. Aber immer hat sie der Gedanke an ihre Kinder davon abgehalten. Genauer, die Vorstellung, dass ein Kind, dessen Mutter sich das Leben genommen hat, nie wieder von den schrecklichen Bildern loskommen wird. Das hat sie am Ende immer wieder dazu gebracht, weiterzumachen. Solche Bilder wollte sie ihren Kindern nicht antun. Manchmal denkt sie an die Möglichkeit, »so etwas« als Unfalltod zu tarnen. Und dann wieder fragt sie sich, ob es nicht noch schlimmer sei, sich mit einer Täuschung davonzustehlen, wo doch Kinder jede Täuschung auf eine geheime Weise spüren.
    Eine Freundin, mit der sie einmal darüber sprach, meinte, dann könne es noch nicht so schlimm sein mit dem Todeswunsch, denn solange sie Regungen wie Mitgefühl verspüre, sei sie nicht wirklich gefährdet, und das hatte sie beruhigt.
    Margot versucht sich vorzustellen, wie ihr Jugendfreund wohl ausgesehen hat am Ende seines Lebens. Sie kann sich erinnern, dass sie vor ein paar Jahren einmal zufällig auf einem Plakat zu einem Weihnachtskonzert ein Bild von ihm gesehen hatte. Da war sein Gesicht immer noch so schmal wie früher in seiner Jugend und zugleich vollkommen anders.
    Der dritte Gang ist beendet, die Weinkaraffe geleert, und da der erwartete Professor immer noch nicht da ist, beschließen Margot und Rottmann, das Essen zu verlängern und noch ein Dessert zu bestellen. Jetzt, da eine so dichte

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