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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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Leute in seinem Hotel sich daran erfreuen könnten. Er könne sogar eine Ausstellung damit machen, zusammen mit anderen schönen Stücken, lockte er. Er wollte sich einfach nicht so schnell geschlagen geben. Der Beamte versprach, darüber nachzudenken.
    Das nächste Mal, als Bülow in die Stadtbibliothek kam, hingen die Stiche dort an der Wand, und der gute Mann dankte ihm für die hervorragende Idee. Beat ließ sich immer wieder etwas einfallen, um ihm abzuluchsen, was er haben wollte, und dazu gehörten mittlerweile auch ein paar alte Bücher. Jedes Mal jedoch handelte er sich eine neue Abfuhr ein. Der Mann war hoffnungslos unbestechlich. Leider hat niemand die aberwitzigen Streitgespräche zwischen den beiden aufgenommen, es wäre das beste Theaterstück über die Wende geworden.
    Bülow hat Frau Barrault noch mehr zu verdanken als die vielen Anekdoten über die Geschichte des Hauses. Über sie lernte er seine Frau Miriam kennen. Es war an einem Nachmittag im Frühjahr 2007, als er hörte, dass die alte Dame im Krankenhaus in Neustrelitz liege. Also machte er sich auf, sie zu besuchen, obwohl er einen Widerwillen gegen Krankenbesuche hat. Seit er denken kann, empfindet er geradezu Ekel beim Betreten einer Klinik. Schon der Geruch schnürt ihm die Kehle zu, und er kann nichts dagegen machen, wenn ihn ein Würgen befällt und er glaubt, sich übergeben zu müssen.
    Seine Erziehung aber (seine Mutter sprach von éducation) hätte nicht zugelassen, sich vor dieser Höflichkeitsanstrengung zu drücken. Anschließend wollte er sofort nach Berlin, sozusagen als Belohnung für die gute Tat. Die Einsamkeit in Sezkow war abends oft bedrückend, besonders wenn sein Freund Sandow nicht da war, dessen Partnerschaft die beste Entscheidung gewesen ist, die er hatte treffen können. Sandow brachte nicht nur Erfahrung als Gastronom mit, sondern auch etwas Geld. Und Bülow hatte Gesellschaft im Haus, was ihm guttat.
    An diesem Wochenende aber war Sandow verreist, und Bülow überkam wie so oft eine allmählich einrieselnde Melancholie, die er zeit seines Lebens kannte und mehr als alles fürchtete.
    Ihr zu entkommen, entschloss er sich früher als geplant, den Besuch bei der alten Dame hinter sich zu bringen, um sich auf dem kürzesten Weg mit seinem alten VW-Bus nach Berlin zu begeben.
    Mit einem bunten Tulpenstrauß betrat er das kleine Zimmer der Klinik in Neustrelitz, in dem zwei Betten standen. Im ersten lag eine Art Leiche, im zweiten eine Frau, »wie er sie schöner nie erblickt hatte«. Diese Formulierung tauchte plötzlich aus seinem emotionalen Kindheitsarchiv auf, verband sich mit dem weichen Mund seiner Mutter und mündete in dem Adjektiv ›liebreizend‹. Ja, das ist es, das ist es genau … dachte er.
    Die Leiche war Frau Barrault. Bülow hätte sie so nicht erkannt. Sie war ganz blass, hatte die Augen geschlossen, und ihr Mund bildete einen faltigen Krater. Die junge Frau im Bett daneben richtete sich auf und legte den Finger auf ihre ein kleines O bildenden Lippen. In sächsischem Tonfall erklärte sie, dass Frau Barrault gerade eine anstrengende Behandlung hinter sich habe und dass man sie besser schlafen lassen solle.
    Noch ’n halbes Schtündschen, sagte sie mit einer Stimme, die in Bülow etwas auslöste, wofür ihm, wenn er später daran dachte, die Worte fehlten. Ihm unter die Haut ging, ihn verzauberte, ihm in die Glieder fuhr, ihn schwach machte, ihn entwaffnete, ihm in die Seele sank, ihn ins Herz küsste, ihn wie der Blitz traf, ihn hinriss, ihn den Gesang der Sirenen vernehmen ließ … alles traf zu und doch wieder nicht. Weil ihm all dies viel zu gewöhnlich und abgedroschen vorkam für das, was sich gerade in seinem Inneren abspielte. Auf ganz großer Bühne. Etwas Einzigartiges. Für das er ein vollkommen reines, unbenutztes, neues Wort bräuchte.
    Die junge Frau hob den Kopf, schob das dicke Haar in den Nacken, zupfte ihr Nachthemd zurecht und ließ sich wieder ins Kissen sinken. Mit müder Hand wies sie ihn an, sich einen Stuhl zu holen und zwischen den beiden Betten Platz zu nehmen. Man könne sich ja so lange unterhalten, bis Frau Barrault aufwache. Sie schob ihm eine Plastiktasse hin und forderte ihn auf, sich von dem Pfefferminztee einzuschenken, dessen Farbe sich kaum von der Flüssigkeit unterschied, die in einem Plastikbeutel neben ihrem Bett

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