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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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Gegenseitigkeit zwischen ihnen entstanden ist.
    Rottmann findet sogar ein Familienfoto in seiner Brieftasche, eine Aufnahme vom neunzigsten Geburtstag seiner Mutter, auf dem auch seine Schwester, ihr Mann und die Kinder zu sehen sind. Im Gesicht des Schwagers kann Margot nichts von dem Jungen wiederfinden, in den sie einmal verliebt gewesen war. Sie blickt lange und angestrengt auf das winzige Bild und wundert sich, dass sie einmal mit diesem Mann Arm in Arm im Gras gelegen hat. Auch Rottmanns Frau ist auf dem Foto zu sehen. Ein hageres Gesicht mit sehr kurzem grauem Haar.
    Sie war krank, sagt er, sie hatte damals gerade eine Chemotherapie hinter sich.
    Sie sieht besonders aus, sagt Margot und lächelt.
    Ja, sie ist besonders, das ist wahr, und ich finde es immer noch.
    Margot gibt Rottmann die Fotografie zurück.
    Kann der Wunsch, sich das Leben zu nehmen, nicht etwas Verlockendes sein?
    Finden Sie?
    Rottmann überlegt. Er selbst hat mehr als einmal daran gedacht. Wann genau das gewesen war, hat er vergessen, aber er weiß noch, dass es mit seinem Misserfolg als Künstler zu tun hatte. Als sein Leben einen faden Geschmack annahm, der nicht mehr weichen wollte. Niemals hat er mit jemandem darüber gesprochen, und er nimmt sich vor, auch an diesem Abend nicht darüber zu sprechen. Gleichzeitig rutscht ihm ein Witz von der Zunge.
    â€ºAch da ist meine Wäscheleine, sagte die Frau, als sie ihren Mann erhängt am Baum fand‹ –
    Margot lacht.
    Verzeihung, das war geschmacklos, sie zuckt mit den Schultern und zieht eine Braue hoch.
    Die Frage ›Wollen Sie darüber sprechen?‹ liegt ihr schon wieder auf der Zunge, aber sie beherrscht sich, denn sie weiß, dass sie damit alles kaputtmachen würde. Und sie weiß auch, dass er gleich mehr erzählen wird. Darin kennt sie sich aus, sie hat ein gewisses Lächeln um seinen Mund entdeckt. Als jemand, der es nicht ohne Anstrengung hat mit der schnellen Rede, besitzt sie die Gabe, sich leicht in andere hineinzudenken.
    Rottmann ist Margot jetzt ganz zugewandt. Er erzählt ihr Dinge, die er sonst nicht erzählt, fragt sich aber ständig dabei, ob er zu viel preisgibt. Dann wieder verwirft er die Zweifel und spricht weiter. Was Margot über seine Frau gesagt hat, wundert ihn. Sie benutzt dasselbe Wort wie ich selbst – ›besonders‹. Merkwürdig, denkt er und erzählt die Geschichte, wie er sie kennenlernte, damals im Herbst, als es regnete und schon fast dunkel war. Als er mit seinem Wagen auf der Autobahn Mannheim – Frankfurt eine Person auf der Standspur neben einem parkenden und mit Blinklichtern bewehrten kleinen Peugeot winken sah. Das heißt, es war mehr als ein Winken, eher schon ein wildes Fuchteln mit den Armen, ja mit dem ganzen Körper, eine zum Hilferuf gewordene Gestalt, die ihm, als er anhielt, beinahe um den Hals gefallen wäre vor Dankbarkeit. Sie hatte bereits eine Ewigkeit in der Kälte gestanden, ohne dass sich jemand ihrer erbarmt hätte, und sie war so durchnässt, dass ihre Bluse wie eine zweite Haut an ihrer Brust klebte, ihr Gesicht glänzte vom Regen, und er musste an die aus dem Meer steigende Ursula Andres in einem James- Bond-Film denken. Sie kletterte in seinen VW-Bus, der vollgestopft war mit Holzleisten, Metallplatten und Leinwandrollen, Gipsmodellen, Farbeimern, Spachteln und Pinseln. Auf dem Weg zur nächsten Tankstelle sprachen sie nicht viel, und als Rottmann wieder allein in seinem Wagen war, kam es ihm vor, als säße sie immer noch neben ihm. Auch Tage später ging es ihm so, er hörte ihre Stimme und nahm ihren Duft wahr. Der ganze Wagen roch nach ihr. Seitdem ist sie in seinem Leben. Er hatte damals gerade sein Studium am Städel in Frankfurt beendet und war fest entschlossen, von seiner Kunst zu leben. Es war die nur ein paar Jahre währende Zeit, in der er das Gefühl hatte, die Zukunft habe schon angefangen. Bis zu dieser Entscheidung, die eher ihn getroffen hatte als umgekehrt. Als er nämlich beschloss, die Kunst aufzugeben.
    Rottmann ist mitten in seiner Geschichte, da taucht die Moll auf. Sie hat ihre Mahlzeit beendet und durchquert jetzt den Speisesaal, nickt mal da und mal dort hin. Wie sie so daherkommt, beherrscht sie den ganzen Raum – mit ihrer Größe, ihrem erhobenen Kopf, ihren langen Armen, ihrer eigenartigen Robe und ihrem gelassenen Gang.
    Und schon ist er wieder abgelenkt.
    Sie wird bestimmt gleich eine Arie

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