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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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Rottmann und Margot haben sich wieder einander zugewandt. Anfangs wollten sie nur ein ›Süppchen‹ essen, danach aber überlegten sie es sich anders und bestellten noch eine Vorspeise, die angepriesene hausgemachte Pastete, die so gut schmeckte, dass sie, als von dem Professor immer noch nichts zu hören war, beschlossen, einen weiteren Gang zu sich zu nehmen, den Müritzfisch à la Fontane.
    Im Laufe des Abends hat sich der Speisesaal allmählich gefüllt, und der junge Kellner kommt jetzt kaum noch nach mit den Bestellungen und dem Auftragen all der Wünsche, die den wartenden Schlaflosen eingefallen sind. Der Koch hatte sich auf große Küche eingestellt, aber dass es so turbulent werden würde, ist eine Überraschung. Schlaflose scheinen doppelt so viel zu essen wie Normalschläfer, so einen Ansturm hat er schon lange nicht mehr erlebt. Er wird noch Personal aus dem Dorf hinzuholen müssen, wenn das so weitergeht.
    Margot und Rottmann sind dabei, zu entdecken, dass es jemanden gibt, der in ihrer beider Leben eine Rolle gespielt hat. Rottmanns Schwester war mit einem Mann verheiratet, der zur selben Zeit wie Margot ein pietistisches Internat im Schwarzwald besuchte. Dieser Mann war Margots erste Liebe gewesen. Schon bald nach dem Abitur machte er sich einen Namen als Organist, was niemanden verwunderte, da er schon während der Schulzeit meisterhaft Orgel spielte. Die Kirche in Königsfeld ist berühmt, nicht nur für ihre reine und auf Prunk verzichtende Architektur, sondern auch für ein Meisterwerk des berühmten Orgelbauers Friedlieb Zöllner. Nur dieser Orgel wegen kamen viele Organisten und Pianisten nach Königsfeld, und Albert Schweitzer hatte sogar ein Haus dort.
    Dass ausgerechnet der Junge, mit dem Margot im Alter von fünfzehn Jahren zum ersten Mal das Küssen ausprobierte, der Schwager ihres Gegenübers war, belebt sie plötzlich. Man sieht es ihr an, ihr Blick hat sich geöffnet, als hätte sie ein Fenster in ihren Augen aufgemacht. Und sie erzählt von damals, von den heimlichen Spaziergängen frühmorgens um fünf oder vier, lange bevor die Glocke zum Wecken ertönte, von den unbeholfenen Zärtlichkeiten, von der Schüchternheit und der Unwissenheit, wie man sie sich heute, im Jahr 2011, kaum noch vorstellen kann, von hin und her geschickten Gedichten, von der Trennung, als er das Internat verließ und sie noch bleiben musste. Von den vielen Briefen, die sie einander schrieben, und vom Warten auf Briefe, von seinem Besuch im Internat, von traurig schmeckenden Küssen, von einem Konzert, das er später dort gab, bei dem sie nur seinen Rücken von unten sah und begriff, dass er längst in einer anderen Welt lebte, weit fort von ihrer, der Welt der Schülerin, die sich aus ihrem Schmerz heraus in Fantasiewelten träumte, sich ein Leben als fromme Schwester ausdachte, fern von den normalen Menschen, und wie sie zum ersten Mal nicht schlafen konnte. Sie lacht, vielleicht kann man nicht schlafen, weil man die ersten Abweisungen im Leben nicht verwunden hat?
    Mein Schwager hat sich umgebracht …
    In Rottmanns Stimme tönt etwas mit, das Margot davon abhält, Fragen zu stellen.
    Sie weiß jetzt schon, welche Bilder sich ihr am nächsten Morgen aufdrängen, wenn sie gegen zwei oder drei aufwacht und nicht mehr schlafen kann. Wenn die Nacht weiß wird wie eine leere Leinwand, auf der dann die Bilder des vorigen Abends ineinanderstürzen, eine Art Chaos-Film, in dem sie selbst als unwirkliches Teilchen da und dort auftaucht.
    Schon jetzt fängt es an mit dem Film, schon in diesem Moment hat sie das Gesicht des Jungen vor sich, mit dem sie ein paar sommerliche Monate lang ›gegangen‹ war, schon jetzt sieht sie seine Lippen, bevor er sie keusch auf ihren Mund legte. Das schmale Gesicht, die tief gebogene Nase, die kinnlange Mähne, die nach vorn fällt und mit einer Kopfbewegung aus der Stirn geschleudert wird. Und seine Augen, aus denen sich Funken lösen, wie in einer Comiczeichnung.
    Die Bewegung mit dem Kopf. Wenn Margot später an ihn dachte, dann sah sie ihn so, mit dieser Kopfbewegung. Sie sieht sich auf rauem Moos, den Rücken an einen Baum gelehnt, die Augen geschlossen, gespannt auf etwas, das sie schon spürte, bevor es geschah. Und der Geruch von Tannennadeln, von Erde, Lippenstift, Haar, Baumrinde, Wacholderbeeren …
    Weiß man denn, warum er das getan

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