Die Schlaflosen
entfernt von aller Realität. Wenn man überlegt, in jedem Haus waren so viele Leute, so viele Bewohner, so viele Besucher, in jeder Wohnung haben sich so viele Leben gekreuzt über so viele Jahre hin, und jedes, wie kurz es auch war, wie ärmlich und erbärmlich, jedes Leben hat seinen eigenen wunderbaren Wahnsinn. Jedes einzelne Zimmer ist dicht gefüllt mit Menschen, man hört ihr Raunen, man riecht ihr Leben, ihr Schicksal, ihre Angst und ihre Lust sogar. Davon ist die Moll überzeugt.
Wenn Wände sprechen könnten! Die Moll muss lachen, wenn sie das hört. Für sie ist es eine Tatsache, dass Wände sprechen. Manchmal so laut, so aufdringlich, so schmerzhaft, dass sie hinterher nicht schlafen kann. Dass sie nicht einmal die vier Stunden schlafen kann, die sie inzwischen schlafen will.
Hier sind wir.
Sandow öffnet eine hart scheppernde Metalltür, die Moll verzieht den Mund, so ein Geräusch! Sie blickt in einen Gewölbekeller, gefüllt mit Weinregalen, in denen dunkel schimmernde Flaschen lagern.
Sehen Sie, Sandow vollführt mit ausgestrecktem Arm einen Halbkreis, der Schatz unseres Hauses, und einige Flaschen davon sind gar nicht übel. Wir verkaufen überallhin, sogar nach Frankreich. Sehen Sie hier, unser Alter Fritz â und er hebt der vorgebeugt blinzelnden Moll eine Flasche entgegen, damit sie das Etikett sehen kann. Darauf sei er besonders stolz, ein berühmter Cartoonist, Fritz Waechter, habe es gezeichnet. Der Wein und der Entwurf des Etiketts seien sozusagen eins, ein kongenialer Wurf. Bülow, Waechter und er selbst hätten bei einem pfälzischen Winzer die verschiedensten Weine gekostet, dazwischen hätten sie Spaziergänge in der Landschaft gemacht und die Wirkung der Sorten an sich selbst ausprobiert. Sie hätten geredet und Boule gespielt und getrunken, bis sie sich für diese lichte, sozusagen mit feinem Strich gezeichnete Sorte entschieden hätten, die, wenn man nicht zu viel davon trinke, eine erstaunliche Wirkung habe, das Denken zu schnellen Sprüngen anrege, zu blitzartigen Erhellungen, zu seltener Schlagfertigkeit und Assoziationslust. Wie gesagt, ein perfekter Gesprächswein, man werde klüger davon, aber nur, wenn man nicht zu viel trinke. â Sonst.
Was sonst?
Die Moll muss nachdenken, wie viele Gläser sie eben geleert hat.
Sonst wird man rechthaberisch, lacht Sandow.
Er hält die Flasche so zärtlich in der Hand und blickt so versonnen darauf, dass die Moll glauben muss, er erinnere sich in diesem Moment an eine Liebesgeschichte.
Ãbrigens sei Waechter, den seine Freunde Fritz nannten, noch bevor der erste Jahrgang abgefüllt werden konnte gestorben. Daraufhin hätten sie beschlossen, den Wein âºAlter Fritzâ¹ zu nennen. Was, wie man weiÃ, in PreuÃen zu einem Missverständnis führe, da es sich ja in diesem Fall um einen ganz anderen als den kriegerischen Alten Fritz handelt, der Deutschland nicht nur die Kartoffeln beschert hat. Er müsse zugeben, dass der Wein ein richtiger Verkaufserfolg geworden sei.
Auf dem Etikett erkennt die Moll drei Elefanten, die ihre Rüssel in die Höhe strecken, wobei jeder Rüssel mit seinem weich ausgerüschten Ende ein Weinglas umschlingt. Aus einer darüberschwebenden Wolke fallen Tropfen herab. Die Elefanten fangen sie mit ihren Gläsern auf. Das Komische dabei ist, das sieht die Moll erst, als Sandow ihr mit dem hellen Schein einer Taschenlampe zu Hilfe kommt, das Komische ist der Gesichtsausdruck der Elefanten â ihre begehrlich vorgestülpten Unterlippen, ihr gieriges Lechzen, ihr geiles Lächeln, das etwas töricht Menschliches hat.
Sie muss laut lachen und will von Sandow wissen, ob sie jetzt auch so aussehe wie diese Elefanten da. Sie habe übrigens bereits eine ganze Menge vom Alten Fritz intus, aber sie wisse nicht, ob sie noch klug oder schon besserwisserisch sei.
Es ärgert sie, sich nicht mehr zu erinnern, wie viel genau sie eben zum Abendessen und dann unter dem Baum mit Mulik getrunken hat.
Bei mir jedenfalls hat das Denken noch keine Funken geschlagen, sagt sie. Vielleicht liegt das an der Schlaflosigkeit, an meinem allgemeinen trüben Geisteszustand?
Und sie stellt die Ãberlegung an, dass der âºAlte Fritzâ¹ bei Schlaflosen womöglich eine andere Wirkung haben könnte als sonst, bei Normalen, so drückt sie sich aus.
Und die wäre?
Ach ich weià nicht â¦
Vielleicht
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