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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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geflüchtet seien. Frau Barrault, die Bibliothekarin, habe sie unten am See, wo sie sich im Schilf versteckten, gefunden und den Mut gehabt, sie hier zu verstecken. Niemand habe davon gewusst, nur sie und ein Dienstmädchen. Das Dienstmädchen sei eingeweiht gewesen, für den Fall, dass Frau Barrault etwas zugestoßen wäre. Dann hätte das Mädchen die Männer versorgt und ihnen Essen und Wasser gebracht. Ein Zugang zu der Höhle befinde sich unter Frau Barraults Keller, so konnte sie die Männer unbemerkt in das Versteck bringen.
    Die Moll und Sandow gelangen in einen düsteren Raum mit Lehmwänden, eine Höhle eher, die sich wie ein Magen aus einer Speiseröhre heraus öffnet. Unter einer schwach leuchtenden Lampe ist eine Pritsche zu erkennen und ein kleiner Holztisch.
    Manchmal kommen Schulklassen hierher, um den Ort zu besichtigen, sagt Sandow, und bis vor ein paar Jahren noch hat Frau Barrault den Kindern erzählt, was damals hier passiert ist. Jetzt ist sie zu alt dazu, sie bringt alles durcheinander.
    Und nach einer Pause: Ach wissen Sie, im Grunde interessiert es ja auch heute keinen mehr.
    Es waren politische Häftlinge gewesen, drei Kommunisten, einer von ihnen ein Jude. Der Älteste von den dreien ist da unten gestorben. Eines Morgens ist er tot gewesen, eine Ratte hat ihm schon das Augenlid angefressen gehabt. Und dann – wie sollte man damals eine Leiche vom Anwesen verschwinden lassen, ohne dass jemand etwas merkte? Zu der Zeit, kurz vor Kriegsende, war das Haus schon Zuflucht vieler Flüchtlinge aus dem Osten gewesen, ein wildes Kommen und Gehen, alles vollgestopft mit Leuten und Gepäck, und die SS immer und überall. Das Dienstmädchen und Frau Barrault haben den Toten mithilfe der beiden anderen Männer nachts nach draußen gezogen. Vorher hatten sie noch daran gedacht, dem Hund ein Schlafmittel einzuflößen, damit er nicht anschlug. Unten am See haben sie die Leiche ins Schilf gelegt, wo jemand sie fand. Er ist außerhalb der Friedhofsmauer beerdigt worden, weil die Leute dachten, er sei ein Verbrecher. Die Leute hier im Ort waren fast alle Nazis gewesen, und so haben sie eben gedacht – wer eine KZ-Nummer auf dem Arm trug, war für sie ein Verbrecher.
    Und dann die Russen, die bald kamen – sie haben die beiden Überlebenden beinahe erschossen, weil sie sie für getarnte SS-Leute hielten. Das war damals der Trick, SS-Leute zogen die gestreiften Hosen und Jacken derer an, die sie getötet hatten, um sich vor den Siegern als Opfer auszugeben. Und erst als die beiden Männer ihre Arme freimachten und die KZ-Nummern vorzeigten, haben sich die Sowjetsoldaten mit ihnen verbrüdert und sie eingeladen, im Weinkeller die Befreiung zu feiern.
    Der Gutsherr übrigens hat sich kurz vor dem Eintreffen der Russen das Leben genommen. Wie der Führer es befohlen hat. Er war von Anfang an Parteimitglied gewesen. Zuerst hat er seine Frau und seine Tochter und dann sich selbst erschossen. Die Bibliothekarin kann mehr davon erzählen, wenn sie einen klaren Tag hat.
    Sandow leuchtet mit seiner Taschenlampe zu noch einer Holztür. Hier geht das Labyrinth weiter, in unendlichen Verzweigungen, wir kennen noch gar nicht alle, sagt er. Und die Geschichte geht immer weiter, weiter, weiter …
    Manchmal ist übrigens auch etwas zu erzählen, was man gerne erzählt. Der Jude, der sich hier verstecken konnte, hat seiner Retterin noch oft geschrieben, und zwar aus Israel, wo er nach der Staatsgründung lebte. Seine Enkel sind vor einiger Zeit aus Tel Aviv hierhergekommen und haben ein paar Tage im Hotel gewohnt. Über die Bibliothekarin stand sogar ein Bericht in einer israelischen Zeitung.
    Die Moll nickt. Sie hat sich auf eine Pritsche sinken lassen, sie ist müde.
    Solche Geschichten kennt sie. Sie hat so viele von ihnen gehört. Kein Haus, in dem nicht der Geruch von Geschichte hängt. Sie möchte jetzt am liebsten schlafen.
    Sandow blickt auf die Uhr, er hat es jetzt eilig. Er reicht der Moll die Hand, hilft ihr auf, und sie gehen in gebückter Haltung zurück. Der Aufstieg fällt ihr schwer, sie schnauft, jede Stufe strengt sie an. Sandow geht voran, gelenkig steigt er hoch und zieht sie nach sich wie ein Kind, bis sie wieder oben im blauen Salon sind.
    Die Moll braucht jetzt Stärkung, etwas zu trinken, einen Schnaps oder einen Kaffee, am besten beides. Sandow winkt den jungen Kellner herbei, während

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