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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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sein Blick fürsorglich auf der jetzt Dahingesunkenen ruht. Sie nimmt den kleinen Silberbecher mit Marillenschnaps entgegen, den Sandow ihr reicht, kippt ihn hinunter und schüttelt sich. Am liebsten würde sie sich jetzt in ihr Zimmer verkriechen und auf dem Bett ausstrecken. Ja, ausstrecken, nur ausstrecken, einfach hinlegen. Ins Dunkle sinken, nichts sonst, keine Geschichten mehr, keine fremden Leben, nur schlafen, weit fort von diesem allem. Aber selbst dazu ist sie zu müde – so müde, so unendlich müde. Sie wird es nicht mehr schaffen bis dort oben hin zum Bett. Ihr ist, als wäre sie immer so müde gewesen, ihr ganzes Leben lang, als bestünden sie und ihr großer Körper aus nichts denn aus Müdigkeit, aus schwerer, schwerer Müdigkeit. Alles unter ihrer Haut ist Müdigkeit.
    Sandow schiebt ihr eine Tasse mit Kaffee hin, sagt etwas zu ihr, streicht ihr beiläufig über den Arm, der lang ausgestreckt auf dem Polster der Sessellehne ruht, und sie dankt es ihm mit einem Blick von unten aus dem rundleibigen Sessel hervor. Dabei fallen ihr langsam die Augen zu, so langsam, dass Sandow zusehen kann, wie das Weiße in ihren Augen unter den Lidern verschwindet. Ihr Kopf sinkt auf den Arm, sie ist eingeschlafen. Sandow legt eine Decke über ihren Schoß, nimmt die unberührte Kaffeetasse wieder mit, die Umsitzenden lächeln.

Jeanine
    Nach ihrem brüsken Aufbruch vom Tisch der Kollegen hat Jeanine sich zuerst in ihr Zimmer zurückgezogen, wo sie, als sie sich auf dem Bett ausstreckte, von Tränen überwältigt wurde. Schon lange hatte sie nicht mehr einen solchen Anfall von Trostlosigkeit. Mit ihrem verschwollenen Gesicht und den roten Augen wollte sie nicht mehr unter die Leute gehen, schon gar nicht wollte sie so von den Kollegen gesehen werden. Sie nahm ein Bad und schlief dabei ein. Als sie aufwachte, war es schon fast Mitternacht. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie war so unruhig, dass sie, kaum hatte sie sich hingelegt, wieder aufstehen musste. Sie hielt es nicht mehr länger aus in dem Zimmer, zog sich an und ging, möglichst ohne gesehen zu werden, nach draußen.
    Jetzt sitzt sie auf einer Bank am See, die Knie unter’s Kinn gezogen, fröstelnd.
    Du weißt, dass es vorübergeht, du weißt es doch, es geht vorbei … sagt sie zu sich selbst. Aber jetzt ist es da, das, was du nicht benennen kannst, eine Art unkörperlicher Übelkeit mit körperlichen Folgen, etwas, das sich plötzlich über dich schiebt und auf dich legt und dich umhüllt und dich davonträgt in ein diffuses Reich, etwas, das man nicht anfassen kann, das aber alles verändert, ein Frost, der durch die Haut und tief in die Muskeln dringt, in die Nerven, ins Blut, ins Herz … und du kannst dich nicht wehren, und am schlimmsten ist, dass du das Gedächtnis verlierst, du vergisst alles, was war, manchmal vergisst du sogar das Wissen davon, dass es überhaupt etwas anderes gegeben hat.
    Wenn du jetzt zurückgehst und dich unter die Leute mischst …, könnte sein, dass es sich verzieht. Aber wie sollst du jetzt diesen Lärm ertragen? Und was werden sie von dir denken?
    Womöglich wird gleich eine SMS an die Personalleitung gehen: Die Kollegin ist untragbar. Dabei siehst du von außen ganz normal aus. Immer ist das so. Du stehst morgens auf und gehst ins Büro und setzt dich an den Schreibtisch und telefonierst und schreibst Gutachten und sitzt abends vor dem Fernseher und kaufst ein und bringst der Nachbarin Blumen und siehst Talkshows und Tatorte, die ganze Palette, holst die Wäsche aus der Maschine und funktionierst. Ob es der Frau mit der verrutschten Kappe, dieser älteren, auch so geht? Sie sieht jedenfalls so aus, als könnte es ihr auch so gehn. Oder der Kollegin, die eine Psychoanalyse macht, dieser Friederike? Sollte ich vielleicht doch … sie ansprechen, die Frau mit der Kappe? Oder einfach so – mich in einen dieser dicken Sessel fallenlassen und mich zurücklehnen und warten bis es vorüber ist?
    Der See flimmert bis in die Ferne, am Ufer raschelt es, da wo das Schilf sich drängt … und diese dünne, schmutzige Schwarz-Weiß-Folie unter den Wolken … etwas plätschert, als sprängen Fische hoch oder als wäre da jemand … da ist auch etwas, ganz hinten, ein zappelndes Wesen, das sich nähert, eine seltsame Gestalt, die anwächst, dunkel, ruhig, auf dem Wasser gleitend

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