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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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Gegenüber darauf ein, anfangs widerstrebend, aber dann williger, greift nach dem mit betont ruhiger Hand gereichten Ausdruck einer Mail-Nachricht des Professors und scheint den Inhalt tatsächlich aufzunehmen. Man kann ihrem mageren Körper ansehen, wie die kämpferische Spannung daraus schwindet. Ja, aus ihrem grimmigen Blick wird ein zugewandter.
    Miriam legt ihr die Hand auf die Schulter, und es gelingt ihr, dass die Frau unter dem sanften Druck ihre Habacht-Position auf der vorderen Sitzfläche aufgibt und sich vertrauensvoll in den Sessel sinken lässt.
    Miriam wollte gerade erklären, wie es zu dem Kontakt mit dem Professor kam und wie sie und die Hotelleitung sich durch alle verfügbaren Quellen über die Seriosität des Schlafpapstes informiert hatten, da ging die Tür auf und der erwartungsvolle Blick ihres Mannes traf sie. Und schon findet sich Miriam in inniger Umarmung, so fest, dass sie sich instinktiv daraus befreit.
    Mit einer Art Spiralbewegung dreht sie sich aus den Armen des großgewachsenen Bülow und wendet sich mit kurzer Entschuldigung wieder der Frau zu, die von ihrem Sessel aus neugierig zu den beiden hochblickt. Miriam überlegt einen Moment, ob sie den Artisten vielleicht doch besser nicht hätte anrufen sollen, sagt so etwas wie ›ein Glück, dass dir nichts passiert ist, mein Schatz …‹, stellt Beat der Frau vor.
    Mein Mann, sagt sie – Frau Blau.
    Bülow küsst dem Gast die Hand und gibt dann einen kurzen Bericht über den Unfall, die Katastrophe auf der Autobahn und sein sechsstündiges Warten im Stau. Am liebsten würde er Miriam mit hinausziehen, am liebsten hätte er sie jetzt für sich, er muss wissen, dass alles in Ordnung ist. Sie aber vertröstet ihn auf später, wirft ihm einen Blick zu, der sagt, lass mich noch kurz mit der Nervensäge allein, und schickt ihn zu Sandow, der sich mit der Moll soeben zu einem Rundgang durch die unteren Räume aufmachen will, um ihr, wie versprochen, die Sauna und den Weinkeller zu zeigen. Sandow begrüßt seinen Freund ebenfalls mit ›Ein Glück‹ und mit einem geflüsterten ›Du ahnst ja nicht, was hier los ist‹.
    Die empörte Frau hat das Intermezzo des Eheschauspiels von ihrer ursprünglichen Erregung abgelenkt, und so als hätte sie im Fernseher einen neuen Kanal angeklickt, richtet sich jetzt ihr Interesse auf Miriam und ihren Mann. Ob sie schon lange verheiratet seien, und wo sie denn herkomme. ›Ursprünglich‹, schickt sie ihrer Frage hinterher, und was sie überhaupt nach Deutschland geführt habe – all die Fragen, mit denen Miriam seit sie denken kann vertraut ist und die sie mal so und mal so beantwortet. In diesem Moment begreift sie die Neugier an ihrer Person einfach als gute Gelegenheit, die Aufmerksamkeit der Frau von der Aufregung mit dem Schlafpapst abzulenken, und gibt geduldig Antwort. Dabei überlegt sie, wie sie die Frau loswerden kann ohne dass diese erneut durchdreht und die Gesellschaft aufwiegelt.
    In gewisser Weise kann Miriam sie sogar verstehen. Sie selbst wäre über so eine Bestellt-und-nicht-abgeholt-Veranstaltung nicht weniger empört, aber sie würde nie so unbeherrscht die Kontrolle verlieren. Frau Blau, das hat Miriam auf der Stelle erkannt, ist nicht eine von denen, die sich selbstverständlich bestimmten Kreisen zugehörig fühlen, obwohl sie so gekleidet ist, dass man sie sofort zuordnet – beinahe aufdringlich bürgerlich. Nein, in Miriams Wahrnehmung ist sie eine, die gewissermaßen ein Fähnchen vor sich herträgt, auf dem geschrieben steht ›ich gehöre dazu‹. Die anderen, die, die dieses unsichtbare Fähnchen sehen, wissen zwar nicht so ganz genau, was sie damit anfangen sollen, aber jeder, der Erfahrung hat mit Menschen, die sich ihres Platzes in ihrer Umgebung nicht sicher und also umso mehr damit befasst sind, wittert sofort: Hier ist jemand, vor dem musst du dich in Acht nehmen! Denn die mit den Fähnchen sind gefährlich. Sie beißen, wenn sie glauben, jemand hege Zweifel an ihrer (worauf immer auch bezogenen) Zugehörigkeit.
    Miriam kann inzwischen durch ihre Erfahrungen im Hotel recht gut einschätzen, zu wem Leute, die so ein Fähnchen vor sich hertragen, gehören wollen. Sie erkennt es an ihrer Kleidung, ihrer Frisur, ihren Koffern, ihrer Schrift – und wenn es sich um Frauen handelt, sogar an ihrem Lippenstift.

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