Die Schlaflosen
du doch, das ist doch immer so gewesen.
Alles Chaos
Ist es Rottmann, der da im Gegenlicht an die Kommode unter dem Spiegel gelehnt steht, den Ellbogen aufgestützt, in der Hand ein Glas, den Blick in die Runde gerichtet? Ja, er ist es. Spielerisch dreht er das Glas zwischen seinen Fingern und wippt im Rhythmus des Klaviergeklimpers. Die andere Hand umfasst das Handy, das ihn aus der Tasche seines Jacketts ansurrt, aber er zögert, es herauszunehmen.
Ob die beiden etwas miteinander zu tun haben? Sein Blick ruht auf der hingesunkenen Moll und dem sich zu ihr herabneigenden Sandow, der ihr eine Wolldecke auf die Knie legt und sie so fürsorglich ausbreitet und noch einmal und noch einmal darüberstreicht, bevor er sich wieder aufrichtet und einem anderen Gast zuwendet. Rottmann ist ganz erledigt von dem Gespräch mit Margot und von dem vielen Essen und Trinken. Alles zu viel, und er überlegt, ob er nicht einfach das Taxi, das ihn vor ein paar Stunden von dem nicht weit entfernten Wochenendhaus seiner Freunde hierherbrachte, bestellen und wieder zurückfahren soll.
Aber würde er da Ruhe finden? Sicher nicht. Sicher würde er da an das denken, worüber er mit dieser Margot gesprochen hat, und die Selbstzweifel würden sich in der Leere des unbewohnten Hauses erst recht ausbreiten können. Wie oft hat er qualvolle Nächte dort verbracht, ohne Ablenkung, ohne die Hilfe eines zerstreuenden Fernsehprogramms, nur seinen privaten Dämonen ausgeliefert, deren Toben sich in der Wüste einsamer Nächte seines Kopfs bemächtigt und ihm Angst macht, reine Angst. Das hat er sich erst in den letzten Jahren eingestehen können, dass das, was schon seit so langer Zeit nachts über ihn kommt, Angst ist. Früher wäre er nie auf die Idee gekommen, diese Zustände Angst zu nennen. Dämonen, ja, das klingt irgendwie noch akzeptabel, sogar kämpferisch. Aber Angst â das klingt, als wäre er ein Kind.
Da bleibt er doch lieber hier und lässt sich unterhalten. Es muss ja nicht den ganzen Abend mit derselben Person sein, etwa mit dieser schrägen Margot, die ihn auf so widersprüchliche Weise fesselt. Dass sie seinen Schwager gekannt hat, ist einer von den Zufällen, über die man sich wundert, über die man Bemerkungen macht wie âºdie Welt ist doch klein!â¹, und die viel öfter vorkommen, als man denkt. Er streicht über die glatte Oberfläche des Handys in seiner Jackentasche, wie einen Handschmeichler benutzt er dieses kleine, schmale, elegante Ding, der Innenfläche seiner Hand tut die Glätte des schwarzen Schutzetuis wohl. Es surrt jetzt schon wieder, und als er es dann doch hervorzieht und auf das Display blickt, bestätigt sich, was er befürchtet hat. Der Anruf kommt von seiner Mutter. Seit einem oder mehr als einem Jahr ist er in beständiger Furcht, ihr könne etwas zustoÃen, sie vergesse, den Herd auszumachen, sie habe sich verlaufen und nicht mehr nach Hause finden können, sie sei in ihrer Wohnung gestolpert und gefallen, sie sei in ein Auto gelaufen und verletzt.
Sie wohnt immer noch alleine in der Wohnung in der UhlandstraÃe, die er ihr vor Jahren gemietet hat, als er sie aus dem teuren München nach Berlin holte, wo Wohnungen um die Jahrtausendwende noch bezahlbar waren. Jetzt lebt sie im zweiten Stock und nimmt die Stufen immer noch ohne Mühe. Sie ist erstaunlich gesund für ihre zweiundneunzig Jahre. Die Ãrztin, die sie bis vor kurzem regelmäÃig aufsuchte, hat ihm das bestätigt. Noch nie habe sie eine Frau gesehen, die in diesem Alter so gelenkig und geistig beweglich sei und die so gute Blutwerte habe. Nur ist die Mutter seit einiger Zeit davon überzeugt, sie werde verfolgt. Auch habe sie herausgefunden, dass diese Ãrztin zum Kreis der Verfolger gehöre und dass sie sie habe umbringen wollen. Ja, sie habe sie vergiften wollen. Und auf seine wiederholte Frage, wer sie denn sonst noch verfolge, schüttelt sie immer beharrlich den Kopf und behauptet, das wisse sie nicht. Aber sie merke es, immer sei jemand hinter ihr her, der sie fertigmachen wolle. Ja, so drückte sie sich aus, âºder will mich fertigmachenâ¹. Er wolle sich rächen an ihr für etwas, das sie gar nicht getan habe. Manchmal fragt Rottmann dann etwas aus ihr heraus, das sie späterhin nicht gesagt haben will und dann einfach abstreitet. Und einige Male hat sie sich vor ihm gebrüstet, auf wie trickreiche Weise
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