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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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…
    Und jetzt erkennt sie ihn, überall würde sie ihn erkennen. Hendrik!, ruft sie, und Henni!, so wie sie ihn gerufen hat, als er ein Junge war: Hörst du mich? – sag was, antworte mir, keine Angst, ich halte dich nicht fest, du bist ganz frei, Henni, ich bin stolz auf dich, ich bin sogar stolz auf den Mut, mit dem du dir deine Freiheit nimmst … ich bewundere dich dafür, aber gib mir ein Zeichen, Henni … in unserm Haus ist noch alles da, all deine Sachen, die Muschel aus dem Atlantik, der versteinerte Frosch, die Schultüte und das Kamel mit dem gebrochenen Fuß, alle Plakate sind noch an der Wand, auch das von deinem Lieblingssong, Touch the Sky … Kannst du dich erinnern? Touch the Sky … ich höre es …
    Hendrik wendet sich ihr zu, aber er hat kein Gesicht … sie will ihn rufen, sie will ihm entgegenlaufen, seine Hand nehmen, aber sie kann nicht … sie kann sich nicht bewegen, sie kann nur zusehen, wie er näherkommt, langsam, sehr langsam und zugleich geräuschlos versinkt, ohne ein Zeichen, ohne einen Ton … am Ende ist nur noch sein dunkles, wirres Haar über dem Wasser zu sehen, bis es sich schließt und wieder daliegt, als wäre nichts passiert … ohne Kreis, ohne Welle, ohne Bewegung, ein verschlossener Spiegel.
    Irgendwann steht sie auf, sucht den Pfad am Rand des Wäldchens, durch das sie gekommen war, tappt durch Gestrüpp, hört Stimmen, Klavierspiel, eine Opernmelodie, der Kuss der Tosca vielleicht … Das erleuchtete Haus liegt da wie damals das Chateau, als sie nach der Wende mit Hendrik die lang ersehnte Frankreichreise machen konnte, und als sie im Elsass eine Vorführung von ›son et lumière‹ erlebten, draußen im Gras nebeneinanderhockend, Erdnüsse kauend, und dabei die Geschichte der Marie Antoinette sahen, wie sie vor den Häschern der Revolution floh, wie das Volk brüllte, wie die Zofe ihr das lange Haar kämmte, der törichten Königin, die vor Eitelkeit die Gefahr nicht erkannte, und als Hendrik wissen wollte, was die Königin denn verbrochen habe … man hörte den Galopp der Pferde, die Seufzer der Marie Antoinette, die flehende Stimme der Zofe, beeilt euch, beeilt euch, die Musik im Schloss und die wütenden Leute auf der Straße …
    Diese Jahre, in denen dich etwas getragen hat, das Glück vielleicht, ja, ein unschätzbares, für immer vergangenes Glück, für das du dankbar sein solltest, du hast es ja erlebt, es ist in deinem Leben, etwas, das bleibt, eine Erinnerung, in der du dich wiegen könntest, so wie man sich in Sicherheit wiegt, in einem tiefen Wissen, dass alles gut war und ist und sein wird für deinen Sohn, deinen Henni, dieses Wissen, das jetzt fort ist, mit ihm verschwunden, und das nur manchmal auflebt, wenn du zerstreut mit ihm sprichst, so wie du früher mit ihm gesprochen hast … bring doch schon mal den Mülleimer runter, heute kannst du nach der Schule nicht zum Fußball, das geht jetzt mal gar nicht, du musst mir helfen, bitte, oder: jetzt reicht’s aber, jetzt ist Schluss, ab in die Klappe, Punkt, basta … wenn du gar nicht merkst, dass dein einseitiger Dialog ins Leere hallt, und wenn du dann nach dem Brief greifst und ihn zum tausendsten Mal zu begreifen suchst, wenn du dich fragst, warum das sein musste und ob alles so schlimm für ihn war, die Ohrfeigen oder die Verbote oder der Freund, den du damals hattest, den er nicht leiden konnte … was war es, was ihn in der Seele getroffen hat, so schmerzhaft, auf so tiefem Grund, was ihn vertrieben hat? Und du fängst wieder an zu murmeln, wird schon gut, schon gut, so wie damals, wenn er krank im Bett lag und vorgelesen haben wollte, Alfons Zitterbacke …
    Und dann der Tag, der alles verändert hat.
    Immer fallen ihr manche Dinge nicht mehr ein, und die undeutlichen Bilder von dem Tisch, auf dem der Brief lag, in dem dieser Satz steht: Hallo Mama, ich brauche meine Freiheit, such mich nicht, bis ich wiederkomme. Die Bilder vermischen sich mit dem Stimmengewirr und dem Geklimper vom Haus her und mit der Nacht.
    Jeanine merkt, sie schafft es nicht, sie wird nicht da hinein zu den Leuten gehen können. Sie streift durch Gestrüpp, legt sich wieder auf eine Bank und wartet. Sie kann in den Saal hineinsehen, wo die Leute sich tummeln. Es wird vorbeigehen, denkt sie, irgendwann wird es vorbei sein, du musst es lassen, du musst es ertragen, das kannst

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