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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Kolb
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sie die Verfolger abgehängt habe, welche Umwege sie genommen, in wie vielen Hauseingängen sie sich versteckt, wie oft sie unverhofft die Richtung geändert und mit welch pfiffigen Einfällen sie die Kerle getäuscht habe. Und einmal hat sie flüsternd gesagt: Du weißt doch, wer die Verfolger sind? Rottmann schüttelte den Kopf. Und dann kam es: Das sind die Juden. Die rächen sich jetzt. Rottmann war auf alles gefasst gewesen, aber darauf nicht. Am Ende hat er es sich damit erklärt, dass im Alter das herauskommt, was in der Kindheit in einen Kopf, eine Seele oder was auch immer hineingekommen ist.
    Mehrmals hat er sacht die Möglichkeit eines Altersheims angedeutet, ja, er hat ihr Kataloge mitgebracht und ihr dargelegt, welche Vorteile betreutes Wohnen habe. Aber davon wollte die Mutter, wie nicht anders zu erwarten, nichts wissen. Auch nichts wissen will sie von einer Hilfe, von jemandem, der ein oder zwei Mal in der Woche zu ihr kommen und putzen könnte, den Müll zur Tonne bringen und die Teppiche entstauben. Auch das hat sie heftig abgelehnt, so heftig, dass ihr Tränen in die Augen stiegen und Rottmann sogleich das Thema sein ließ. Nicht einmal ein neues Schloss an ihrer Wohnungstür will sie haben, obwohl das, das sie jetzt hat, wenn es innen verschlossen ist, von außen nicht geöffnet werden kann, sodass Rottmann, wenn er die Mutter tagelang nicht erreichen kann, dann vor ihrer Tür steht und vergeblich klingelt und klopft, nichts anderes übrigbleibt, als die Tür aufbrechen zu lassen. Einmal war es schon so weit, da öffnete sie in dem Moment, als der Schlüsseldienst schon gekommen war. Sie hatte einfach nichts gehört, hatte fernsehend im Bett gelegen und war darüber eingeschlafen. Ohne Gebiss, im Nachthemd, ganz klein und mit aufgelöstem dünnem Haar stand sie plötzlich vor ihm und lachte verlegen. Seitdem hat Rottmann den Entschluss gefasst, ihr ein neues Sicherheitsschloss einzubauen, verschiebt es aber immer wieder. Er weiß, dass die Aktion ihn viel Kraft kosten wird. Die Mutter will keine Änderung, nicht einmal, wenn sie so sinnvoll ist wie dieses neue Schloss. Sie wird ihm unentwegt reinreden und hinterher wird sie ihn verdächtigen, ein Schloss eingebaut zu haben, zu dem auch die Verfolger einen Schlüssel hätten. Sie wird ihm befehlen, ihr auch seinen Schlüssel zu dem Schloss auszuhändigen, damit nur sie alleine über sämtliche Schlüssel verfüge, und er wird so tun, als gäbe er ihr alle Schlüssel, wird dann aber einen dritten und vierten ohne ihr Wissen bei sich und bei seiner Schwester deponieren.
    Er blickt auf das Display und beschließt, diesmal nicht zurückzurufen. Er hat zwar kein gutes Gefühl dabei, wie er ohnehin immer gegen seinen Willen eine Spur Schuld verspürt, wenn er an seine Mutter denkt und daran, was ihr alles zustoßen könnte, und trotzdem will er jetzt nicht ihre Stimme hören. Er schüttelt die Vorstellung aus seinem Kopf, es könne ihr etwas passiert und ihr Ruf nach seiner Hilfe könne vergeblich sein. Das wiederum amüsiert ihn, alle Mütterwitze kommen ihm in den Sinn, und er denkt, dass man tatsächlich einmal ein Wochenende lang unerreichbar sein solle. Dass die Empfehlung des Schlafpapstes gar nicht so dumm ist.
    Ein Mann am Klavier spielt eine Melodie, die Rottmann, ohne sich dessen bewusst zu sein, mitsummt. Er merkt es erst, als die von hinten kommende Margot ihm leicht auf die Schulter tippt. Auch sie summt jetzt: Wenn die Igel in der Abendstunde … dah-dadah-dadah … Anna Luise, Anna Luise …
    Kennen Sie das auch?
    Rottmann nickt.
    Ich glaube, ich hab mich hundertsiebenundfünfzig Mal davon in den Schlaf singen lassen … Ich hatte eine Schallplatte von Ernst Busch, und die lief so gut wie ununterbrochen. Aber das ist lange her, sehr lange … Wir waren damals auf romantische Weise links, den realen Sozialismus haben wir gemieden, er hätte uns die schwärmerische Sicht kaputtgemacht.
    Margot hört nicht richtig hin. Ihr gehen die Dinge im Kopf herum, über die sie eben gesprochen hatten. Die Möglichkeit, das Leben freiwillig zu verlassen.
    Auch Rottmann denkt daran. Wie hatte Margot so schön gesagt? Ins Grab schlüpfen, als sei es ein warmer Schlafsack.
    Was für eine Formulierung! Bei Rottmann hat sie eine geradezu körperliche Wirkung hervorgerufen, eine heftige kurze Sehnsucht nach Tod.
    Er war

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