Die Schlaflosen
nach dem Dessert mit einer Entschuldigung aufgesprungen und hat eine Runde im Park gedreht, den Kopf in die frische Luft gestreckt, sich der Idee hingebend, auf die andere Seite zu schlüpfen, in die Ewigkeit, in eine dunkle Dimension. So wie man in die Welt hineinschlüpft, schlüpft man auch wieder aus ihr heraus. Das Sanfte des Schlüpfens, das Widerstandslose, die Vorstellung eines samtigen Gleitens â¦
Er hat nicht weiter darüber reden wollen. Margot sagte noch, indem sie ihre Kappe übers Ohr schob, Kafka habe seiner armen Verlobten, die er so oft verlassen hat, damit sagen wollen, wie unüberwindlich seine Furcht vor der letzten Konsequenz sei, dem Sexualakt. Wie solle man denn sonst das Schlüpfen verstehen? Der Akt führt zum Tod, ins Grab, die Verlockung der Frau ist die Verlockung des Todes. Er habe nicht sagen wollen, so wie man in die Welt hineinschlüpft, könne man auch wieder aus ihr herausschlüpfen. Nein, er habe den Ursprung des Lebens, das weibliche Innere, als Grab empfunden ⦠anders könne man das doch gar nicht verstehen â¦
Margot hat diese kleine Debatte höchst erregt geführt und sich dabei dauernd an die Kappe gefasst oder das Messer neben den Teller gelegt und sich mit dem abgestreckten kleinen Finger am rechten Mundwinkel gekratzt und ratlos gestikuliert.
Rottmann lächelt in sich hinein. Er erinnert sich an nächtelanges Kafka-Lesen, damals, als er noch studierte. Im nachhinein gesehen, kommt es ihm vor, als sei in jungen Jahren Kafka einer seiner Lebensbegleiter gewesen. Auch seinen Kunstwerken hatte er Titel gegeben, die er Kafkas Schriften entnahm.
âºVor dem Gesetzâ¹ etwa, eine Serie schwarz-weiÃer Schriftbilder, die auf den ersten Blick aussahen, als seien sie eine ernstzunehmende richtige Schrift, die aber, sieht man genauer hin, aus einer Fantasieschrift bestanden, einer nervösen, feinstrichigen Schrift mit jähen Schleifen nach oben und unten, mit diagonalen Ausrutschern der klecksenden Feder, mit militanten Querschlägern über die ganze Seite hinweg, aggressiv und regellos, dann wieder fein und schön, zum Teil einfach übereinandergeschrieben. Davon wollte er damals siebenundzwanzig groÃe Tafeln anfertigen, das Material hatte er bereits im Atelier gelagert, âºVor dem Gesetzâ¹ sollte etwas GroÃes, Besonderes, Wegweisendes werden, und gerade da kam ihm das dazwischen, für das er bis heute keine Erklärung hat.
Seine Krise, sein Umbruch, seine Lebensentscheidung. Alle diese Bezeichnungen treffen nur äuÃerlich zu, besagen aber nichts über die tiefe Bedeutung für sein eigenes Leben, für das Leben seiner Familie, seiner Tochter, für das, was er damals Zukunft nannte. Von einem Tag auf den anderen brach er das Projekt ab und hörte auf, Kunst zu machen.
Sein Stiefvater war zur gleichen Zeit gestorben, und ein Erbe von ein paar tausend Mark erlaubte ihm das Risiko eines neuen Anfangs. Er wurde Graphikdesigner, er entwarf Buchumschläge und Markenlabels und alles, was an ihn herangetragen wurde, und er hatte unerwarteten Erfolg damit. Er verdiente gut, und bald blieb auch etwas übrig, um Kunst zu kaufen. Zeichnungen und Aquarelle von Kirchner, Otto Mueller, seine geliebten Expressionisten, auch George Grosz und Dix. Das war damals alles noch erschwinglich, ein paar hundert Mark das Blatt. Später kaufte er auch Pop-Art, und bald fing es an, dass man Geld in Kunst anlegte. Die Nähe zu Kunst wurde mit den Jahren immer mehr so etwas wie ein angesehener Gesellschaftsduft. Es war nicht egal, um welche Kunst es sich handelte, aber das Geld spielte eine Rolle dabei. Kunst wurde immer teurer. Jedenfalls die, die es schaffte, an die wertsteigernde Oberfläche zu gelangen. Es gab eine Menge ungeschriebener Gesetze. Wer etwas kaufte, musste sich verpflichten, beim späteren Wiederverkauf zehn Prozent an den einstigen Verkäufer, von dem er das Bild hatte, zu zahlen. Niemals an den Künstler selbst, sondern immer an den Verkäufer. Das machte sich bezahlt, und Rottmann spielte mit. Er fand das Spiel zwar nicht ganz sauber, aber er spielte trotzdem mit. Jedenfalls kam er auf diese Weise zu einem gewissen Wohlstand, denn zwanzig Jahre später hatten sich manche Kunstwerke, etwa eine Zeichnung von Warhol, um das Hundertfache im Wert gesteigert, und davon profitierte Rottmann, und nicht nur er. Es war zu der Zeit, als heftig darüber debattiert wurde, was Kunst
Weitere Kostenlose Bücher