Die Schlaflosen
überhaupt ist oder sein könnte. Jeder weiÃ, dass vieles darunter Schrott ist und dass von den Klassikern Fälschungen kursieren, aber jeder, der mit Kunst handelt, lacht darüber. Auch Rottmann lacht darüber und macht seine Witze. Insgeheim aber dankt er dem Himmel, falls es so etwas gibt wie den Himmel, dass ihm bis heute noch kein Brief von der Staatsanwaltschaft ins Haus geflattert ist. Er ist so zuversichtlich wie man beim Befahren einer zu schmalen HochgebirgsstraÃe im Moment der Ankündigung eines Erdrutschs zuversichtlich ist. In ganz deprimierten Momenten sagt er zu sich, siehst du, du wolltest Künstler werden und jetzt bereicherst du dich durch Kunst und weiÃt nicht mal, ob sie echt ist.
Er hätte auch Kunstlehrer werden können, zum Leben etwas absolut Sicheres, aber zu sehr hat ihn die Freiheit gereizt, etwas selbst in die Hand zu nehmen und zu einem richtigen Erfolg zu treiben. Seine Frau sagt, du bist manisch, alles, was du machst, machst du so ausschlieÃlich, dass es nur das gibt für dich. Sie komme sich manchmal vor, als lebe sie mit einem Autisten, mit jemandem, der nicht ansprechbar ist. Und vielleicht stimmt das ja â aber hatte er eine Wahl?
Hat überhaupt jemand eine Wahl, aus dem herauszukommen, was er geworden ist? Dabei weià Rottmann, wie anders er nach auÃen hin wirkt. Wie verbindlich, sensibel, ja überempfindlich. Und genau das scheint gerade nicht zu stimmen. Er wirkt einfühlsam, aber in Wirklichkeit hat er keine Ahnung, wie er tatsächlich ist. Kann das sein? Sind es nicht vielleicht winzige Unterschiede, die dich verwirren? Woran etwa kann man testen, ob man einfühlsam ist? Und wenn sich am Ende herausstellte, dass man kein bisschen Empathie aufbringt? Dass man die Signale der anderen nicht versteht? Kein Mitgefühl verspürt in dem Moment, da andere es empfinden? Und wenn, was wäre so schlimm daran? Hätte er sonst seine Frau überhaupt kennengelernt? SchlieÃlich war er der Einzige damals auf der regennassen Autobahn zwischen Mannheim und Frankfurt, der anhielt, nachdem sie schon lange vergeblich um Hilfe gewinkt hatte. War er da nicht gelenkt von einem Impuls, zu helfen? Oder hat er nur angehalten, weil die Frau, die da in der Kälte stand, so schön war?
Die momentane Blickfahrt durch sein Leben lässt einen leichten Schwindel in ihm aufkommen, er schwankt angesichts der Flut vergangener Bilder. Ist es der Alkohol oder ist es die Macht der Müdigkeit? Rottmann sieht sich als jungen Mann: das Gesicht im warmen Duft der eigenen Armbeuge, die vorbeiziehende Szenenfolge seines sich unendlich spiegelnden Daseins, die Fahrt in das tiefe, wunderbare Dunkel, das man Schlaf nennt. Plötzlich schreckt er auf, der Kopf ist ihm auf die Brust gefallen, im Stehen war er eingenickt, Margot hat es gemerkt, vorsichtig hat sie ihm das Glas aus der Hand genommen. Da schnellt ihm der Kopf schmerzhaft in den Nacken und er reiÃt die Augen auf.
Pardon â
Margot steht immer noch mit dem Glas da und will wissen, was sie für ihn tun kann. Sein Ringfinger wandert zu der kitzelnden Nase, er ist ganz weit fort, und noch einmal,
Pardon! Ich glaube â¦
Und er macht sich davon ohne weitere Erklärung. Margot kennt das. Es könnte ihr genauso gehen.
Von oben gesehen
Von der Empore, die sich über dem Flügel an der Wand entlangzieht, hat man einen guten Blick über die kleinen Szenen im blauen Salon. Da liegt immer noch hingegossen in einem Clubsessel die schlafende Moll. Sie hat die Beine halb ausgestreckt, das Wollkleid ist ihr über die Knie gerutscht, die Decke liegt am Boden, daneben ein Schuh. Eine Hand ruht auf dem abgewetzten Polster der Lehne, die andere halb verdeckt im Stoffgeknäuel unterhalb des Bauchs, der sich in der Bewusstlosigkeit des Schlafs rund, beinahe schwanger aussehend, hervorwölbt. Alles ist Schlaf, das auf dem Oberarm liegende Gesicht, der zur Seite fallende geöffnete Mund, das dunkle Haar, die breit fallende Brust, die sich im Atemrhythmus auf und ab bewegt ⦠Und wer genauer hinsieht, wie der jetzt an der Schlummernden vorbeitorkelnde Rottmann, kann erkennen, wie ungewöhnlich groà und makellos die Flächen ihrer Fingernägel sind, mit schmalen, hellen Monden, matt schimmernd. Die natürliche Schönheit einer Hand, die jetzt in vollkommener Ruhe daliegt, nachdem sie zuvor in beständiger Bewegung war, unermüdlich gestikulierend. Von Zeit zu Zeit
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