Die Schlaflosen
schlüpft aus dem schlafschlaffen Mund ein flacher Schnarcher, der von tief unten aus der Brust kommt und mit einem Schnarren auf dem Weg von der Kehle in die Nase endet. Jeder kennt dieses kleine Drama, vor allem bei ungewolltem Einnicken während eines Konzerts oder in der U-Bahn, und jeder weiÃ, wie es ist, wenn man dann aufwacht und mit aufgerissenen Augen in die ebenso aufgerissenen Augen eines Gegenübers starrt und dabei unauffällig versucht, mit dem Handrücken ein Speichelrinnsal vom Mundwinkel zu wischen.
Die Moll aber wacht nicht auf, sondern schläft weiter, trotz der Geräusche um sie herum schläft sie weiter, trotz des Gesumms und Gebrumms und Geklimpers. Die Moll schläft und träumt. Träumt von einem Pferd, das sich in einem Park auf dem Rücken ausgestreckt hat, die Läufe nervös nach oben, den schwarzen Schweif auf der Wiese ausgebreitet, ausschweifend ausgebreitet, zu einem glänzenden Rosshaarteppich. Darüber schreitet die Moll auf den Pferdeleib zu, der sich ihr im hellen Mondlicht entgegenwölbt. Um auf ihn hinaufzukommen, muss sie zwischen den Hinterbeinen hochklettern. Sie schafft es mit Leichtigkeit, tritt barfuà mit den groÃen Flächen ihrer groÃen FüÃe auf warmes Bauchfell, ein Wagnis bei den zappelnden Hufen, kniet nieder, legt sich, streckt sich aus, da hebt ein Schnauben an, ein strudelnder Rossduft hüllt sie ein, und sie schiebt die FüÃe in warme Hautfalten, gibt sich der Angstlust ganz hin auf ihrem tierischen Lager. Du träumst ja nur, denkt sie dabei, da kann dir ja nichts passieren
Rottmann wagt nicht, die Moll zu wecken. Nachdem er ihr eine ganze Weile beim Schlafen zugesehen hat, den Blick auf ihrem mal auflächelnden, mal sich kräuselnden Gesicht, auf ihren Lidern, die unter den dunklen Wimpern schmale Streifen von Augenweià freigeben. Er kann sich von ihrem Anblick nicht losreiÃen, und so nimmt er neben ihr Platz und winkt, einen Finger auf den Lippen, die junge Bülow zu sich her. Er ist durstig. Die Bülow beugt sich zu ihm hinab, um ihn in vorsichtig gesenkter Stimme zu bitten, einen Augenblick seinen Platz zu verlassen und hinüber in die Bibliothek zu kommen, dorthin, wo jetzt die ganze Gesellschaft hinstrebt. Ihr Mann habe etwas zu sagen, und da man die Schlafenden nicht stören wolle, seien die wachen Gäste gebeten, kurz rüberzukommen.
Direkt neben dem Flügel, flach ausgestreckt auf dem Boden liegt noch ein Schlafender. Geräuschvoll zieht er den Atem ein, nicht einmal einen Teppichplatz hat er sich ausgesucht. Er liegt auf dem nackten Holzboden, die Beine halb unter dem Corpus des Flügels und den Kopf so, dass er beinahe die bronzene Vogelkralle eines menschenhohen Kunstwerks berührt, das sich da in der Ecke aufrichtet und soeben noch Anlass eines heftigen Streitgesprächs zwischen zwei männlichen Gästen war.
Es ging darum, ob die Skulptur, die eine Mischung aus Vogel und Mensch ist, ernstzunehmende Kunst sei. Der eine, jener, der am Tisch den âºSpiegelâ¹ las, polemisierte heftig gegen diese Art Wohnzimmerdekoration, gegen das Vogelgesicht mit menschlichem Ausdruck, gegen die aufdringliche Aussage. Da hat jemand wahrscheinlich Giacometti imitiert, schlechter könne man es nicht machen, so eine verkrotzte Vogelmissgeburt mit einem süÃlich lächelnden Gesicht, das sei doch das Allerletzte. Viel zu nett! Er konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Der andere warf ihm Arroganz vor, es sei doch schrecklich, wenn ein Künstler stets nach allen Seiten lauere, was erlaubt sei und was nicht, das wären ja DDR-Verhältnisse ⦠er finde übrigens, man könne sich doch an der Vieldeutigkeit des Vogels erfreuen.
Eindeutigkeit, miese Eindeutigkeit, das ist es ja, konterte der andere, Vieldeutigkeit, wie schön wäre das! Aber diese Art Eindeutigkeit sei doch völlig banal ⦠schob er mit gestrecktem Zeigefinger hinterher, die Mundwinkel verächtlich nach unten gezogen.
Auch diese beiden Männer folgen jetzt der langsam schlurfenden kleinen Herde in die Bibliothek. Rottmann wirft einen Blick auf den am Boden Liegenden und denkt, er ist gekleidet, wie man es sich für eine Gesellschaft in einem Herrenhaus vorstellt. Hellblaues Hemd, Schal mit heraldischem Muster und ein Jackett aus beigem Glencheck, an den Ellbogen Lederflecken.
Aber im Schlaf sind alle gleich, denkt Rottmann und beugt sich hinab zu dem geröteten,
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