Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
scheute. Am liebsten hätte er die galiläische Hochebene im Galopp überquert, aber er musste langsam reiten, um nicht vom kaum sichtbaren Weg abzukommen und in einen Graben zu stürzen.
Dieser Ritt war Wahnsinn, das wusste er, nicht nur wegen der Dunkelheit. Das ganze Vorhaben war hochgefährlich. Kephallions Herz pochte schneller. Solche Abenteuer war er nicht gewöhnt, sie regten ihn auf. Schon vor einigen Stunden, als er aus dem Palast geschlichen war, zitterte er am ganzen Leib. Die Gänge des Palastes von Tiberias wurden regelmäßig von einer Streife der Palastgarde abgelaufen, und vor einigen Durchgängen standen sogar unentwegt Wachen. Er hatte Umwege gehen müssen, die ihn weit von den Ställen wegbrachten. Doch er nahm diese Verzögerungen eher in Kauf, als gesehen zu werden, wie er den Palast verließ. Allzu leicht könnte Antipas später den Zusammenhang zwischen seinen nächtlichen Aktivitäten heute und der Ermordung des Pilatus durch die Zeloten übermorgen herstellen.
Bei seinem heimlichen Streifzug durch die Gänge war er auch in einen Teil des Palastes geraten, der offiziell nicht in Benutzung war. Aus einem der Gemächer waren jedoch Stimmen gedrungen, und als er jene von Antipas erkannte, war er kurz stehen geblieben und hatte sein Ohr an die Tür gehalten.
»Nein, Herodias. Nein und nochmals Nein. Eine Scheidung von Haritha kommt nicht in Frage.«
»Der Sanhedrin wird dir bestimmt die Zustimmung geben, denn jeder weiß, dass deine Frau im Grunde eine Heidin geblieben ist, die nur der Form halber zum Judentum übergetreten ist. Ich hingegen …«
»Du bist meine Schwägerin, und das mosaische Gesetz …«
»Ich bin sicher, dass Rabban Jehudah einer Ausnahmeregelung für dich zustimmt. Er hasst Haritha, weil sie seine Moralvorstellungen verletzt. Liebend gerne würde er sie loswerden, und wenn du das an die Bedingung knüpfst, stattdessen mich heiraten zu dürfen …«
»Meine Astrologen erklären übereinstimmend, dass eine Scheidung von Haritha Verderben über mich brächte. Gott wird mich furchtbar strafen.«
»Oh, diese Scharlatane und deine verdammte Wundergläubigkeit!«
»Herodias!«, mahnte Antipas erschrocken, als sei bereits die Beschimpfung seiner Wahrsager ein Sakrileg.
Kephallion hörte gerade noch rechtzeitig, dass Herodias sich der Tür näherte. Er brachte sich in einem dunklen Winkel in Sicherheit, sah Herodias wutschnaubend nur eine Armeslänge von ihm entfernt vorbeiziehen und hörte auch, als sie vor sich hin fluchte: »Wenn nicht so, dann eben anders!«
Als sie außer Sicht war, setzte Kephallion seinen Streifzug fort. Dass Herodias zur Fürstin aufsteigen wollte, passte ihm nicht. Er hatte ihre Hurerei im Hain mit dem Römer, dem Besatzer, nicht vergessen. Aber in zwei Tagen würden sowohl Antipas als auch sie ganz andere Probleme haben, wenn nämlich Pilatus und Salome ihnen tot zu Füßen lägen.
Doch dazu musste er zunächst die Zeloten finden, denn sie sollten diese Gott gewidmete Tat vollbringen. Er hatte sich noch keine Gedanken gemacht, wie er das anstellen sollte. Er hatte noch nie Kontakt zu einem von ihnen gehabt, immer nur einzelne Geschichten über Sadoq und seine rechte Hand, Menahem, gehört, wie sie den Tempel blockierten, wie sie die Volkszählung verhindern wollten, gegen Augustus und Archelaos predigten und später gegen Tiberius, Coponius, Antipas … Sie waren Helden, lebten jedoch im Verborgenen. Derzeit, so hatte Kephallion über Umwege erfahren, war Nazareth ihr Zentrum. Darum musste er dorthin reiten.
Die Stadtmauer von Nazareth zeichnete sich endlich in der Dunkelheit ab. Kephallion passierte die Tore ohne Mühe, sie waren geöffnet und nur von einem alten Nachtwächter bewacht, der jeden durchließ. Nazareths enge Gassen und niedrige Häuser lagen wie Schatten vor ihm. Um leiser zu sein, saß er ab und führte das Pferd am Zaum neben sich her. Er sah sich um, ob er irgendjemanden entdeckte, der ihm weiterhelfen könnte. Doch da war niemand. Es war tiefste Nacht, in drei Stunden ginge die Sonne wieder auf. Wer sollte sich schon zu dieser Zeit hier …
Dort, in der Ecke, ein Bettler. Er schlief, aber das war Kephallion egal.
»Ich suche Sadoq«, gestand er dem verwahrlosten Mann, nachdem er ihn geweckt hatte.
»Wer bist du?«
»Ich gebe dir einen Silberling.«
Der Bettler schüttelte den Kopf.
»Nimm die Münze«, drängte Kephallion. »So viel bettelst du dir in einer Woche nicht zusammen. Also gut, zwei Silberlinge.«
Der Bettler
Weitere Kostenlose Bücher