Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
heute zum ersten Mal. Namen spielten hier keine Rolle. Dieser Onex war einer der kräftigeren Männer, aber nicht stark genug, um die Winden bedienen zu können. Er war daher im unteren Teil des Steinbruchs eingesetzt, wo er von früh bis spät Steine zerhackte. Alles in allem wirkte er wie jemand, der schon wenigstens drei Menschen ums Leben und hundert andere um Hab und Gut gebracht hatte.
»Was willst du?«, fragte Timon Onex nachdrücklich.
»Nicht so laut, du Esel.« Onex blickte sich zu den anderen Gefangenen um, die alle im Abstand von zwei Schritten auf dem dürftig mit Stroh ausgelegten Boden schliefen. Keiner regte sich.
»Ich habe dich heute beobachtet«, flüsterte Onex. »Du bist genau der Richtige für mich. Seit Monaten schon will ich von hier fliehen. Es ist gefährlich, lohnt sich aber.«
Timon runzelte die Stirn. »Und wie soll das vor sich gehen?«
»Unsere Höhle ist nicht bewacht, nur der Ausgang des Steinbruchs. Wir fliehen nicht zur offenen Seite, sondern klettern die Felswand hoch.«
»Dort oben steht auch eine Wache«, wandte Timon ein.
»Genau das ist der Punkt. Eine Wache. Und die hilft uns. Der Kerl hat nur einmal im Monat dort oben Nachtwache, morgen ist es wieder so weit. Er lässt uns durch, wenn wir hochkommen.«
»Wieso sollte er das tun?«, fragte Timon skeptisch.
»Wieso, wieso, es ist eben so.«
Timon schüttelte den Kopf. Auch er hatte früher manchmal an Flucht gedacht, aber alle, die zu fliehen versucht hatten, waren heute tot. Einige wurden von den Wurfspeeren der Wachen getroffen, andere stürzten die Felswand hinab, und jene, die zunächst überlebten, wurden eine Woche lang bei Wind und Wetter und ohne Nahrung oder Wasser an ein Kreuz gebunden. Wer auch das überstand, wurde fortan für die härtesten Arbeiten eingeteilt und starb bald darauf an Erschöpfung. Erst nach den heutigen Ereignissen war Timon gewillt, das Risiko eines Fluchtversuchs auf sich zu nehmen; er wollte jedoch ganz genau wissen, worauf er sich einließ.
»Sag es, sonst mache ich nicht mit.«
Onex machte ein Gesicht, als müsse er sich überwinden. »Den Wachen geht es kaum anders als uns. Sie müssen zwar nicht schuften, kommen aber fast nie aus dem Steinbruch heraus. An Frauen kommen die wenigsten heran. Hier in der Nähe ist kein Dorf. Manche haben seit Jahren nicht mehr zwischen Schenkeln gelegen.«
Timon wartete darauf, dass Onex seine Erläuterung fortsetzte. Als dieser schwieg, fragte er: »Was, zum Hades, redest du da für ein Zeug? Ich weiß noch immer nicht, womit du die Wache auf deine Seite gebracht hast.«
Onex sah ihn ungeduldig an. »Gerade ein Grieche sollte kapieren, was ich damit sagen wollte. Dein Volk versteht doch viel von solchen Praktiken, sagt man.«
Jetzt ging Timon ein Licht auf. »Du hast mit ihm …?«
»Ja«, unterbrach Onex und fletschte die Zähne. »Schluss damit. Das hier ist kein Plauderstündchen in einer Philosophenvilla, falls du es noch nicht bemerkt hast. Halt jetzt den Mund und lass mich meinen Fluchtplan erklären. Also, die Felswand ist das einzige Hindernis, dabei hilft uns niemand. Ich kann nicht gut klettern. Du musst also morgen die Wand so bearbeiten, dass viele kleine Vorsprünge entstehen, die wir auch bei Dunkelheit finden und benutzen können. Vergiss dabei nicht, dass wir nicht viel Beinfreiheit haben, denn wir haben Ketten an den Füßen. Ich habe Tücher gesammelt, die wir um die Ketten wickeln, damit man das Rasseln nicht hört. Oben hilft uns dann der Kerl, die Ketten abzunehmen. Damit ist es dann geschafft, das ganze Hinterland steht uns offen, und jeder geht seiner Wege. Alles klar?«
»Und du bist sicher, dass er uns hilft?«
Onex nickte. »Ich habe ihm versprochen, mich morgen ein weiteres Mal um ihn … zu kümmern.«
»Während unserer Flucht?«
»Für die Freiheit tue ich alles.« Und mit einem seltsamen Blick fügte er hinzu: »Und du hoffentlich auch.«
10
Die Nacht war schwarz. Die dünne Sichel des Mondes sandte kaum Licht zur Erde. Abseits des Weges zeichneten sich Schemen von Sträuchern und Steinhaufen ab, die wie Geister den Ritt Kephallions verfolgten. Immer wieder sah er ängstlich nach rechts und links, als erwarte er jeden Moment, von einem Dämon gepackt und gefressen zu werden. Schwärme stummer Fledermäuse sirrten über seinen Kopf hinweg, Raben schreckten von toten Ästen auf, Eidechsen huschten durch das trockene Gehölz, und bei jedem Geräusch zuckte Kephallion derart zusammen, dass auch sein Pferd kurz
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