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Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Titel: Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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geschah es: Im freien Fall stürzte Gordian in die Tiefe und schlug so schnell auf, dass er nicht einmal schreien konnte.
    »Gordian«, schrie Timon verzweifelt. Nun gab auch sein Seil nach, und Timon fiel. Er wusste, dass er gleich sterben würde, und er sah seine Mutter, wie sie ihm als Dreijährigem etwas vorsang, wenige Tage, bevor sie starb; er sah die klugen Augen seines Vaters aus dem Dickicht zwischen Bart und Brauen leuchten, den prächtigen Palatin und die engen, stinkenden Straßen Roms, sah Jerusalem, sah die Haine Ashdods und schließlich … »Salome«, flüsterte er, dann schnürte sich sein Seil enger um den Körper, schnitt sich in sein Fleisch, und er schrie auf.
    Er hing etwa fünfzehn Schritt über dem Abgrund. Irgendwie hatte der zweite Mann an der Winde seinen Absturz stoppen können. Timon spürte über das Seil das Zittern seines Helfers, die bebenden Beine und vibrierenden Muskeln, als dieser versuchte, ihn langsam hinabzulassen. Die Wachen halfen in solchen Situationen so gut wie nie mit.
    Endlich bekam Timon einen Wandvorsprung zu fassen. Keine Sekunde zu früh, wie sich zeigte, denn im nächsten Augenblick ließ die Spannung des Seiles nach. Es rollte ab, bis das obere Ende sich von der Winde löste und an Timon vorbei auf die Steine klatschte. Timon hatte nun nur noch seine Arme und Beine, die ihn halten und retten konnten.
    Mit zusammengebissenen Zähnen krallte er sich an die Felswand. Das Fleisch um seine Hüften schien zu brennen, er spürte seine Beine nicht mehr und konnte sie nicht bewegen. Er sah nach unten. Dort hatten sich einige Arbeiter und Wachen versammelt, aber sie konnten und wollten nur zuschauen, nicht helfen. Ein solches Spektakel bekamen sie sonst nie geboten, denn andere Küken waren immer schneller abgestürzt, als man sehen konnte.
    Er wusste nicht, woher die Kraft kam, die ihn immer noch auf dem kleinen Vorsprung hielt und ihn nun auch noch dazu brachte, einen ersten kleinen Schritt zu wagen. Sein linker Fuß suchte einen Vorsprung, fand ihn, dann zog der rechte Fuß nach. Langsam stieg Timon ab; es dauerte lange, bis er nur noch zwei Körperlängen vom sicheren Boden entfernt war, und sprang.
    »Gordian«, rief er sofort. Sein Blick suchte den Freund. Die Wachen hatten ihn bereits weggeschafft.
    »Er ist tot«, sagte einer der Gefangenen.
    Timon lief, so schnell er konnte, quer über den Steinbruch. Die hochgehaltene Lanze einer Wache übersprang er einfach. Erst vor den Gräbern hielt er inne, in die die Römer jeden Arbeiter, unabhängig von seinem Glauben und den entsprechenden Bestattungszeremonien, warfen. Timon sank auf die Knie, halb vor Erschöpfung, halb vor Trauer. Die Erde hatte Gordian, hatte seinen einzigen Freund bereits verschluckt.
     
    Am selben Abend schob sich einer der Gefangenen dichter an das Ruhelager Timons heran. Timon schlief in dieser Nacht unruhig, zu viel war in den letzten Stunden passiert. Er träumte von Gordians Absturz, von seinem eigenen, von den letzten Gedanken, die er gehabt hatte. Er versuchte im Traum, noch einmal das Gesicht seiner Mutter zu sehen, und er erinnerte sich, zuletzt an Salome gedacht zu haben. Sie rief ihn in diesem Traum. In eine weiße Tunika gekleidet, streckte sie ihm die Hand entgegen, wollte ihn zu sich holen. Sie wartete auf ihn, doch er bewegte sich keinen Schritt. Ich kann nicht, rief er. Sie wartete und wartete und wartete, doch schließlich wandte sie sich von ihm ab. Da griff jemand von hinten nach ihm. Eine Hand rüttelte an seiner Schulter …
    »Wach endlich auf«, sagte der Gefangene und beugte sein Gesicht über Timons Schulter. »Na endlich. Du hast tief geschlafen und wirres Zeug geredet.«
    Timon vergewisserte sich zunächst, dass er wirklich wach war. Seine Kehle war trocken, er hatte Mühe zu sprechen. »Tut … Tut mir Leid, wenn ich dich mit meinem Gerede geweckt habe.«
    Der Gefangene grinste herablassend, als amüsiere er sich über die höfliche Umgangsart, die Timon auch nach vier Jahren Steinbruch noch nicht verlernt hatte.
    »Deswegen habe ich dich nicht geweckt.« Er schob sich noch dichter an Timon heran, so dass seine Brust sich an Timons Rücken presste. »Ich bin Onex. Bleib so liegen, so ist es unauffälliger.«
    » Was ist unauffälliger?«, fragte Timon und musterte misstrauisch über die Schulter das Gesicht des Gefangenen. Er kannte ihn vom Sehen, was nicht verwunderlich war, denn der Steinbruch war mit etwa fünfzig Gefangenen überschaubar, doch seinen Namen hörte er

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